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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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entgegenwirken konnte, indem man mehr einnahm oder zwölf Stunden am Stück schlief. Mittlerweile hatten sich Nebenwirkungen eingestellt. Er verlor allmählich an Gewicht, und seine Gesichtszüge waren hagerer geworden. Sein Gedächtnis ließ nach, kleine Details und Namen fielen ihm nicht mehr ein, die Bilder vergangener Fälle und Verhaftungen gerieten ihm im Geiste durcheinander oder verschwammen, und mittlerweile musste er sich Merkzettel schreiben. Es war unmöglich zu entscheiden, ob durch die Drogen sein Verfolgungswahn zugenommen hatte oder nicht, denn schließlich war Paranoia ein entscheidender Vorteil, eine Tugend, die man sich antrainieren und kultivieren musste.
    Wenn sie durch die Meta-Amphetamine verstärkt wurde, umso besser.
    Er schüttete sich etwas davon in die Hand, noch etwas, wie war noch gleich die richtige Dosierung? Besser zu viel als zu wenig. Zufrieden spülte er das Mittel mit dem Inhalt seiner Feldflasche hinunter. Der Wodka brannte ihm in der Kehle, überdeckte aber nicht den beißenden chemischen Geschmack, der ihm Brechreiz verursachte. Leo wartete, bis das Gefühl nachließ, und suchte die Umgebung ab. Alles lag unter einer frischen Schneedecke. Das gefiel ihm. Außerhalb von Kimow selbst gab es nur wenige Stellen, wo man sich verstecken konnte. Ein Mann war meilenweit sichtbar und seine Spuren leicht zu verfolgen.
    Er hatte keinen Schimmer, welcher der Höfe Michail Zinowjew gehörte. Das Überraschungsmoment konnte man angesichts eines auf der Straße abgestellten Militärlasters ohnehin vergessen, also sprang Leo heraus, zog seine Pistole und näherte sich dem nächststehenden Haus. Obwohl die Amphetamine noch nicht angefangen hatten zu wirken, fühlte er sich schon wacher, konzentrierter, weil sein Gehirn bereits auf die unweigerliche narkotische Woge wartete. Er trat auf die Veranda und überprüfte seine Waffe.
    Noch bevor er geklopft hatte, erschien eine ältere Frau mit lederner Haut in der Tür. Sie trug ein blau gemustertes Kleid mit weißen Ärmeln und um den Kopf einen bestickten Schal. Leo gefiel ihr nicht, und seine Waffe, seine Uniform und sein Militärlaster genauso wenig.
    Sie war vollkommen furchtlos und unternahm keine Anstrengungen, die Zornesfalten auf ihrer Stirn zu verbergen.
    »Ich suche Michail Swjatoslawitsch. Ist das hier sein Hof? Wo steckt er?«
    Als spräche Leo in einer Fremdsprache, legte sie den Kopf schief, gab aber keine Antwort. Das war jetzt schon das zweite Mal in 24 Stunden, dass eine Alte ihm die Stirn bot und ihn offen ihre Verachtung spüren ließ. Etwas war an diesen Frauen, das sie unberührbar machte. Seine Autorität bedeutete ihr nicht mehr als irgendwelchem Meeresgetier auf dem Grund des Ozeans. Zum Glück löste sich das Patt auf, als der Sohn, ein kräftig gebauter Mann mit nervösem Blick, aus dem Haus geeilt kam. »Sie müssen entschuldigen. Sie ist alt. Was kann ich für Sie tun?«
    Schon wieder entschuldigte sich ein Sohn für seine Mutter.
    »Michail Swjatoslawitsch. Ich suche ihn. Wo ist er?
    Welcher Hof gehört ihm?«
    Als er endlich begriff, dass Leo ihn gar nicht verhaften wollte, dass seine Familie wenigstens heute noch sicher war, war der Sohn überaus erleichtert. Eifrig deutete er auf den Hof seines Freundes.
    Leo kehrte zum Laster zurück, wo sich seine Männer bereits versammelt hatten. Er teilte die Mannschaft in drei Gruppen auf. Sie würden sich dem Haus aus verschiedenen Richtungen nähern, eine Gruppe von vorn, eine von hinten, die dritte würde zur Scheune vorstoßen und sie einkreisen. Jeder der Männer war mit einer speziell für den MGB entwickelten 9-Millimeter-Automatikpistole Marke APS Stechlin bewaffnet. Außerdem trug jeweils ein Mann pro Gruppe eine AK-47-Maschinenpistole. Falls es dazu kam, waren sie auf eine offene Schlacht vorbereitet.
    »Wir müssen den Verräter lebend fassen. Wir brauchen sein Geständnis. Im Zweifelsfall, egal welchem, wird nicht geschossen.« In aller Ausdrücklichkeit wiederholte Leo seinen Befehl gegenüber der von Wassili angeführten Gruppe. Anatoli Brodsky zu töten war nun Befehlsverweigerung und würde bestraft werden. Gegenüber dem Leben des Verdächtigen war ihre eigene Sicherheit zweitrangig.
    Als Reaktion darauf übernahm Wassili die AK-47 seiner Gruppe. »Nur um sicherzugehen.«
    In dem Bemühen, Wassili möglichst wenig Gelegenheit zu geben, dass er die Operation sabotierte, beschloss Leo, ihn den unwichtigsten Bereich absichern zu lassen. »Deine Gruppe durchsucht

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