Kind 44
Straße. Bei der Hälfte der Kehre, als der Laster im rechten Winkel zur Straße stand, ignorierte der Fahrer offensichtlich Leos Handzeichen und setzte zu weit und zu schnell zurück.
Leo rannte nach vorn und hämmerte gegen die Tür, aber es war schon zu spät. Eines der Hinterräder kam von der Straße ab und hing nutzlos herumwirbelnd in einer Schneewehe. Leos Wut wurde abgemildert durch das wachsende Misstrauen, das er gegen den Fahrer hegte. Der Mann legte gerade ein kaum vorstellbares Maß an Inkompetenz an den Tag. Den Laster und auch den Fahrer hatte Wassili besorgt. Leo öffnete die Fahrertür und brüllte gegen den Wind an: »Raus!«
Der Fahrer kletterte heraus. Mittlerweile waren auch die Beamten vom Heck heruntergesprungen, um die Situation zu begutachten. Alle starrten Leo mit kaum verhohlener Missbilligung an.
Waren sie verärgert über die Verzögerung, über die ganze Mission oder gar wütend auf ihn als Kommandanten? Leo kam nicht dahinter. Er beorderte einen der anderen Männer, sich ans Rad zu stellen, während die restliche Mannschaft einschließlich Wassilis den Laster aus dem Schnee schob. Das Rad wirbelte und spritzte ihnen dreckigen Schneematsch auf die Uniform. Endlich griff die Schneekette auf dem Asphalt und der Laster machte einen Satz nach vorne. Leo befahl dem in Ungnade gefallenen Fahrer, sich nach hinten zu setzen.
Eigentlich reichte so ein Fehler aus für eine Anzeige und eine Verurteilung, die ihn in den Gulag brachte.
Wassili musste dem Fahrer Straffreiheit zugesichert haben, eine Garantie, die allerdings nur dann etwas wert war, wenn Leo versagte. Er fragte sich, wie viele aus der Mannschaft wohl noch eher auf seinen Misserfolg als seinen Erfolg gesetzt hatten. Offenbar war er in seiner eigenen Einheit isoliert und auf sich allein gestellt. Leo übernahm das Steuer. Er würde selbst fahren, selbst den Weg finden. Er würde sie dort schon hinbringen. Trauen konnte er niemandem. Wassili stieg neben ihm ein und entschied sich klugerweise, den Mund zu halten. Leo legte den Gang ein.
Als sie schließlich auf der richtigen Straße nach Westen waren und sich Kimow näherten, hatte der Sturm sich gelegt. Eine schwache Wintersonne stieg langsam auf.
Leo war erschöpft. Die Fahrerei durch den Schnee hatte ihn ausgelaugt. Seine Arme und Schultern waren steif, die Augenlider schwer. Sie kamen durch bäuerliches Kernland – nur Felder und Wälder. Als sie in ein sanftes Tal hineinfuhren, sahen sie Kimow. Eine Ansammlung geduckter Häuser, manche an der Straße gelegen, andere zurückgesetzt, alle mit viereckigem Grundriss und hohen Giebeldächern, ein Anblick, an dem sich seit 100 Jah ren nichts geändert hatte. Das war das alte Russland: um Ziehbrunnen und uralte Mythen herumgebaute Ansiedlungen, wo die Gesundheit des Viehs noch vom Wohlwollen des Dworowoi abhing, des Hofgeists. Wo Eltern ihren Kindern erzählten, dass die Geister sie mitnehmen und in Rinde verwandeln würden, wenn sie nicht brav waren. Die Eltern hatten als Kinder dieselben Geschichten gehört und waren ihnen nie entwachsen. Monatelang bestickten sie Kleider, nur um sie den Waldnymphen, den Rusalki, darzubieten, die sich angeblich von den Bäumen schwangen und, wenn ihnen danach war, einen Menschen zu Tode kitzeln konnten. Leo war in der Stadt aufgewachsen und konnte mit diesem ländlichen Aberglauben nichts anfangen. Erstaunlich, dass es der ideologischen Revolution ihres Landes so wenig gelungen war, diese primitive Folklore zu verscheuchen.
Leo hielt den Laster am ersten Bauernhaus an. Aus seiner Jackentasche kramte er eine Glasphiole mit kleinen, gezackten, schmutzig-weißen Kristallen hervor. Reine Meta-Amphetamine, ein Aufputschmittel, das sich bei den Nazis großer Beliebtheit erfreut hatte. Leo hatte es während seines Einsatzes an der Ostfront kennengelernt, als die Rote Armee die Invasoren zurückgedrängt und sich nicht nur Kriegsgefangene zu Eigen gemacht hatte, sondern auch einige ihrer Gewohnheiten. Es gab Operationen, bei denen Leo sich keine Ruhepausen leisten konnte. So wie diese. Leo hatte das Mittel auch nach dem Krieg regelmäßig eingenommen, immer wenn eine heikle Operation sich die ganze Nacht über hinzog. Mittlerweile bekam er es von den Ärzten des MGB verschrieben. Wenn es hart auf hart ging, war der Nutzen des Medikaments nicht hoch genug einzuschätzen, allerdings um den Preis eines völligen Zusammenbruchs etwa vierundzwanzig Stunden später.
Einer totalen Erschöpfung, der man nur
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