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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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ihn einholte. Der Wald bot eine Chance zu verschwinden, sich zu verstecken. Und wenn es zum Kampf kam, hatte er da drinnen, wo es Äste und Steine gab, eine größere Chance.
    Leo legte an Tempo zu, trieb sich noch weiter an, sprintete wie auf einer Laufbahn. Tief drinnen sagte ihm eine Stimme, dass der Untergrund trügerisch und so schnell zu laufen gefährlich war. Aber die Amphetamine machten ihn glauben, dass alles möglich sei – als könne er den Abstand zwischen ihnen beiden einfach überspringen.
    Er kam ins Stolpern und schlitterte zur Seite, bevor er kopfüber in einer Schneewehe landete. Benommen, begraben unter Schnee, rollte er sich auf den Rücken und versuchte zu ergründen, ob er verletzt war, während er in den fahlen blauen Himmel starrte. Er spürte keinen Schmerz. Er rappelte sich hoch, wischte sich den Schnee aus dem Gesicht und von den Händen und betrachtete mit kühler Distanz die Schnitte in seinen Händen. Dann blickte er auf und suchte nach einem Anzeichen von Brodsky. Er erwartete schon, ihn im Wald verschwinden zu sehen, aber zu seiner Überraschung war auch der Gesuchte stehen geblieben. Er rührte sich nicht. Verwirrt hastete Leo weiter. Er kapierte das nicht.
    Just in dem Moment, wo eine Flucht möglich gewesen wäre, unternahm der Mann offenbar nicht den leisesten Versuch. Stierte einfach nur zu Boden. Kaum 200 Meter trennten sie jetzt noch. Leo zog seine Pistole und verfiel wieder in einen Trott. Er zielte, obwohl er wusste, dass er auf diese Entfernung keinen Schuss riskieren konnte. Sein Herz pumpte wie wild, zwei Schläge pro Schritt. Eine weitere Welle chemischer Energie. Sein Gaumen wurde trocken. Die Finger zitterten vor Energie, Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Kaum 50 Schritt lagen noch zwischen ihnen. Brodsky wandte sich um. Er war unbewaffnet. Er hielt nichts in den Händen. Es schien, als habe er ganz plötzlich und unerwartet aufgegeben. Leo rannte weiter, immer näher.
    Endlich konnte er sehen, was Brodsky zum Halten gebracht hatte: Ein eisbedeckter Fluss, um die zwanzig Meter breit, lag zwischen ihm und dem Wald. Vom Hügel aus war der nicht zu sehen gewesen, weil er unter einer dünnen Schneeschicht verborgen lag, die sich auf der gefrorenen Oberfläche gebildet hatte. Leo rief ihm zu: »Es ist vorbei!«
    Anatoli erwog diese Worte, dann wandte er sich wieder dem Wald zu und trat auf das Eis hinaus. Seine Schritte waren unsicher, er rutschte über die glatte Oberfläche.
    Die Eisdecke knackte unter seinem Gewicht, sie würde ihn kaum tragen. Aber er blieb nicht stehen. Einen Schritt nach dem anderen. Das Eis krachte, schwarze, gekrümmte Risse bildeten sich auf der Oberfläche, die sich in gezackten Linien fächerförmig ausbreiteten. Je schneller er sich bewegte, desto schneller schienen sie aufzutauchen und in alle Richtungen zu schießen. An den Kanten schwappte Eiswasser hoch. Anatoli tastete sich weiter vor. Er war jetzt in der Mitte des Flusses, noch zehn Meter, und er war auf der anderen Seite. Er blickte nach unten und sah dunkles, eiskaltes Wasser.
    Der andere hatte das Flussufer erreicht. Er schob die Waffe ins Halfter und streckte die Hand aus. »Das Eis trägt nicht. Sie schaffen es nicht bis zum Wald.«
    Brodsky blieb stehen und drehte sich um. »Ich versuche gar nicht, bis zum Wald zu kommen.«
    Er hob das rechte Bein und trat mit einer plötzlichen Bewegung zu, die Eisoberfläche splitterte. Wasser schoss hoch, das Eis barst vollends, und er brach ein.
    Vollkommen taub, in einer Art Schockzustand, ließ er zu, dass er versank. Er blickte hinauf in das Sonnenlicht über ihm. Dann, als er merkte, das er nach oben gezogen wurde, schob er sich flussabwärts, weg von der Bruchstelle. Er wollte nicht mehr auftauchen. Er würde im dunklen Wasser verschwinden. Seine Lungen fingen an zu stechen, und schon konnte er fühlen, wie sein Körper sich gegen seine Entscheidung zu sterben wehrte. Er stieß sich weiter flussabwärts, tauchte so weit wie möglich vom Licht weg, von jeder Überlebenschance. Schließlich hob der Auftrieb ihn zur Oberfläche. Aber anstatt an die Luft wurde sein Gesicht gegen eine feste Eisdecke gepresst. Die langsame Strömung zog ihn weiter flussabwärts.
    ***
    Als ihm klar wurde, dass der Verräter nicht wieder auftauchen würde, dass er bewusst von dem Luftloch wegschwamm, um sich umzubringen und damit seine Komplizen zu schützen, eilte Leo das Ufer entlang und schätzte ab, wo unter dem Eis der Mann stecken musste. Er zog sein

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