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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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zerknitterten Brief, den er, wie er berichtete, eingeklemmt hinter dem Schreibtisch des Verräters gefunden hatte. Während sämtliche anderen Briefe genau wie die in der Wohnung verbrannt worden waren, hatte der Verdächtige diesen in der Eile übersehen. Leo las ihn. Der Brief stammte von einem Freund, der ihn wissen ließ, dass er jederzeit bei ihm wohnen könne. Die Adresse war teilweise verschmiert, aber der Name der Stadt war deutlich zu lesen: Kiew.
    Leo faltete den Brief zusammen und reichte ihn seinem Stellvertreter. »Das hat Brodsky selbst geschrieben.
    Kein Freund. Er wollte, dass wir ihn finden. Er ist nicht auf dem Weg nach Kiew.«
    Der Brief war in aller Eile geschrieben worden. Die Handschrift war uneinheitlich und nur schlecht verstellt. Der Inhalt war lachhaft und lediglich dazu da, den Leser davon zu überzeugen, dass der Verfasser ein Freund war, an den Brodsky sich in der Stunde der Not wenden konnte. Die Adresse war mit Absicht verschmiert worden, um eine schnelle Identifizierung des echten Adressinhabers zu verhindern, und damit ein Beweis, dass der Brief eine Fälschung war. Und sein Fundort – hinter den Schreibtisch gerutscht – roch ebenfalls nach einer Inszenierung.
    Wassili verwahrte sich dagegen, dass der Brief nicht echt sein könnte. »Es wäre nachlässig, die Kiew-Spur nicht gewissenhaft zu prüfen.«
    Leo war sich zwar sicher, dass der Brief eine Fälschung war. Aber vielleicht war es ja gar nicht so dumm, Wassili als Vorsichtsmaßnahme nach Kiew zu schicken. So wappnete er sich gegen jedwede Anschuldigungen, Beweise unterdrückt zu haben. Er verwarf den Gedanken wieder. Es spielte gar keine Rolle, wie er die Ermittlungen durchführte. Wenn es ihm nicht gelang, den Verdächtigen zu finden, war seine Karriere am Ende.
    Leo wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bericht zu. Nach Aktenlage war Brodsky mit einem Mann namens Michail Swjatoslawitsch Zinowjew befreundet.
    Diesen hatte man wegen schwerer Erfrierungen aus der Roten Armee entlassen. Er war schon dem Tode nah gewesen, als man ihm mehrere Zehen amputiert und ihn danach wieder hochgepäppelt hatte. Die Operation hatte Brodsky durchgeführt. Leo fuhr mit dem Finger über das Dokument und suchte nach der aktuellen Adresse. Kimow. Er wandte sich zu seinen Männern um und registrierte Wassilis mürrischen Gesichtsausdruck.
    »Wir rücken aus.«

30 Kilometer nördlich von Moskau
15. Februar
    Die Straßen aus Moskau heraus waren mit vereistem Matsch bedeckt, und obwohl die Reifen des Lasters Schneeketten hatten, waren sie kaum über 25 Kilometer pro Stunde hinausgekommen. Wind und Schnee fegten mit solcher Heftigkeit um sie herum, als hätten sie ein persönliches Interesse daran, dass Leo sein Ziel nicht erreichte. Die am Dach der Fahrerkabine befestigten Scheibenwischer hatten Mühe, wenigstens ein winziges Fleckchen des Fensters freizuhalten. Bei einer Sichtweite von weniger als zehn Metern kämpfte sich der Laster vor. Und es war nur Leos schiere Verzweiflung, die ihn unter derartigen Bedingungen eine solche Fahrt wagen ließ.
    Leo hockte vornübergebeugt neben Wassili und dem Fahrer, auf dem Schoß hatte er verschiedene Karten ausgebreitet. Alle drei trugen sie Mäntel und Handschuhe, als befänden sie sich im Freien. Die Fahrerkabine mit ihrem eisernen Dach und Boden wurde nur vor der Restwärme des ratternden Motors angeheizt, aber wenigstens hielt sie das Wetter ab. Seine neun bis an die Zähne bewaffneten Agenten im Heck reisten weniger luxuriös. Die ZiS-151-Laster hatten nur eine Plane, durch die kalte Luft und sogar Schnee eindrang. Nachdem man festgestellt hatte, dass die Temperaturen dort hinten bis auf minus 30 Grad fallen konnten, war das Heck aller ZiS-151 mit Holzöfen ausgestattet worden, die man auf der Ladefläche verschraubt hatte. Doch dieses Scheingerät wärmte nur die, die so nah saßen, dass sie es beinahe berührten, was die Männer dazu zwang, sich zusammenzukauern und regelmäßig zu rotieren. Leo hatte oft genug selbst dahinten gesessen.
    Alle zehn Minuten waren die beiden jeweils am nächsten Sitzenden langsam, aber beharrlich von ihrem Platz verdrängt und in die kälteste Ecke ganz am Ende der Sitzbänke verbannt worden, während die restliche Mannschaft nachrückte.
    Zum ersten Mal spürte Leo bei seiner Mannschaft inneren Widerstand. Die Gründe waren aber nicht die widrigen Umstände oder der Schlafmangel. Daran waren die Männer gewöhnt. Nein, dahinter steckte etwas anderes. Vielleicht die

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