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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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am östlichen Stadtrand kannte er sich nicht gut aus. Aber dann stellte sich die Orientierung als völlig problemlos heraus, denn sein Ziel dominierte auf der gegenüberliegenden Straßenseite die winterlich graue Silhouette. Um 100 Meter und mehr überragten mehrere U-förmige Wohnblocks ihn und alles andere ringsherum. Sie standen sich paarweise so gegenüber, als seien sie Spiegelbilder des jeweils anderen. Der Arzt bestaunte die moderne Architektur, die Tausenden Familien ein Zuhause bot. Dies war nicht nur ein Wohnungsbauprojekt, es war ein Monument der neuen Ära. Schluss mit den ein- oder zweistöckigen Privathäusern. Die waren alle verschwunden, plattgemacht, zu Ziegelstaub zermahlen, und an ihrer Stelle gab es nun perfekt gestaltete Wohnungen, von Staat und Volk entworfen, Volkseigentum, alle in einheitlichem Grauputz und neben- sowie übereinandergeschachtelt. Noch nirgendwo hatte er je gesehen, dass eine immer gleiche Form sich so oft in so vielen Richtungen wiederholte, eine Wohnung die exakte Kopie der anderen. Eine dicke Schneeschicht bedeckte die Dächer des Gebäudekomplexes, als habe Gott eine weiße Linie gezogen und sagen wollen: Bis hierhin und nicht weiter, der Rest gehört mir. Das wird die nächste Herausforderung, dachte Zarubin, der Rest des Himmels. Gott gehörte er nun wirklich nicht. Irgendwo in diesen vier Gebäuden musste sich auch Wohnung Nr. 124 befinden, das Heim des MGB-Offiziers Leo Stepanowitsch Demidow.
    Früh am Morgen war Zarubin von Generalmajor Kuzmin über Leos plötzliches Verschwinden unterrichtet worden. Leo hatte sich am Anfang eines wichtigen Verhörs abgemeldet, weil er sich angeblich fiebrig fühlte und seinen Pflichten nicht mehr nachkommen konnte.
    Was den Generalmajor beunruhigte, war der Zeitpunkt des Aufbruchs. War Leo wirklich krank? Oder gab es einen anderen Grund für seine Abwesenheit? Warum hatte er zunächst versichert, er sei gesund genug zum Arbeiten, nur um es sich dann anders zu überlegen, kaum dass man ihm den Auftrag erteilt hatte, den Verdächtigen zu verhören? Und warum hatte er versucht, den Verräter allein zu befragen? Der Doktor war losgeschickt worden.
    Aus medizinischer Sicht glaubte der Arzt schon vor einer Untersuchung, dass Leos schlechter Gesundheitszustand von seinem beträchtlich langen Aufenthalt im eiskalten Wasser herrührte, vielleicht eine durch die Einnahme von Amphetaminen verschlimmerte Lungenentzündung. Wenn das zutraf, wenn Leo tatsächlich krank war, hatte Zarubin den Auftrag, sich wie ein Arzt zu verhalten und seine Genesung zu befördern. Wenn Leo allerdings nur simulierte, aus welchem Grund auch immer, dann sollte Zarubin sich wie ein MGB-Offizier verhalten und ihm unter dem Vorwand, es sei ein Stärkungsmittel, ein starkes Sedativum verabreichen. Das würde Leo für nächsten vierundzwanzig Stunden ans Bett fesseln und seine Flucht verhindern, während der Generalmajor Zeit hatte zu entscheiden, wie weiter vorzugehen war.
    Wie dem an einem Betonpfeiler vor dem ersten Gebäude angebrachten Metallschild zu entnehmen war, befand sich Wohnung Nr. 124 im dritten Wohnblock auf der 14. Etage. Der Aufzug war ein sauberer, glänzender Metallkasten mit Platz für zwei Leute, oder auch für vier, wenn man nichts dagegen hatte, sich ein bisschen aneinanderzukuscheln. Er ratterte bis in die dreizehnte Etage, blieb dort kurz stehen, so als müsse er verschnaufen, und legte dann das letzte Stück zurück.
    Zarubin benötigte beide Hände, um das schwergängige Gitter aufzuschieben. In dieser Höhe trieb ihm der Wind, der über den offenen Korridor fegte, die Tränen ins Gesicht. Zarubin warf einen kurzen Blick auf das Panorama der Ausläufer des mit schmuddeligem Schnee bedeckten Moskau, dann wandte er sich nach links und stand wenig später vor Wohnung Nr. 124.
    Eine junge Frau öffnete die Tür. Der Doktor hatte Leos Akte gelesen und wusste, dass er mit einer Frau namens Raisa Gawrilowna Demidowa verheiratet war, 27 und Lehrerin. Nicht in der Akte hatte gestanden, dass sie schön war, und sie war auffallend schön. Das hätte vermerkt sein sollen, solche Sachen waren wichtig.
    Darauf war Zarubin nicht vorbereitet gewesen. Für schöne Frauen hatte er eine Schwäche – nicht für marktschreierische Schönheiten, aber für solche, die kein Gewese darum machten. Und das hier war so eine Frau. Sie gab sich nicht nur keine Mühe mit ihrer Erscheinung, sondern versuchte alles, um unscheinbar zu wirken, ihre Schönheit herunterzuspielen.

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