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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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einzelne Portion kostete. Mit welchem Tod war der Majoran beglichen worden? Hatte die Scheibe Rinderzunge da das Leben von Anatoli Brodsky gekostet? Während ihm übel wurde, bemerkte er: »Kein Wunder, dass du jede Woche hierherkommst.«
    Raisa lächelte. »Ja, die beiden verwöhnen mich. Ich sage ihnen immer, dass mir auch eine Kasha reichen würde, aber ...«
    Stepan unterbrach sie: »Du lieferst uns eine gute Ausrede, um uns selbst zu verwöhnen.«
    In betont neutralem Ton fragte Leo seine Frau: »Dann bist du also direkt nach der Arbeit hergekommen?«
    »Genau.«
    Das war eine Lüge. Zuerst war sie irgendwo mit Iwan hingegangen. Aber bevor Leo weiter über die Sache nachdenken konnte, berichtigte Raisa sich: »Stimmt gar nicht. Normalerweise komme ich direkt von der Arbeit her. Aber heute Abend hatte ich noch einen Termin, deshalb war ich auch ein bisschen zu spät.«
    »Einen Termin?«
    »Beim Arzt.«
    Raisa setzte ein Lächeln auf. »Eigentlich wollte ich es dir ja erst sagen, wenn wir allein sind, aber da es nun schon mal zur Sprache gekommen ist ...« »Was sagen?«
    Anna stand auf. »Sollen wir lieber rausgehen?« Leo bedeutete seiner Mutter, sie solle sich wieder hinsetzen.
    »Also bitte. Wir sind doch eine Familie. Keine Geheimnisse.«
    »Ich bin schwanger.«

20. Februar
    Leo konnte nicht schlafen. Er starrte die Decke an und hörte dem ruhigen Atmen seiner Frau zu, die sich mit dem Rücken an ihn gekuschelt hatte, nicht unbedingt als bewusstes Zeichen von Intimität, sondern weil sie zufällig so zu liegen gekommen war. Raisa hatte einen unruhigen Schlaf. War das Grund genug, sie zu denunzieren? Ja, warum nicht? Er kannte sich damit aus, wie man so etwas formulieren musste: Meine Frau findet nachts keine Ruhe, sie wird von Träumen verfolgt. Offensichtlich plagt sie ein Geheimnis.
    Er konnte die Verantwortung für die Ermittlungen in die Hände eines anderen legen. Er konnte sich vormachen, dass er damit das Urteil aufschob. Er selbst war ja viel zu nah an der Sache dran, war viel zu verstrickt. Bei jedem anderen würden die Ermittlungen nur zu einem einzigen Ergebnis führen: Da der Fall nun einmal eröffnet war, würde sich sonst niemand gegen die Schuldvermutung stemmen.
    Er stand auf und stellte sich im Wohnzimmer ans Fenster. Der Blick von hier ging nicht über die Stadt, sondern reichte nur bis zum benachbarten Wohnblock. In der ganzen Front waren nur drei Fenster erleuchtet, drei von vielleicht 1000. Leo fragte sich, welche Probleme die Leute dort quälten, was ihnen den Schlaf raubte. Er fühlte eine seltsame Verbundenheit mit den Menschen hinter diesen drei Vierecken aus blassgelbem Licht. Es war vier Uhr morgens, die Stunde der Verhaftungen.
    Die beste Zeit, jemanden abzuholen, indem man ihn aus dem Schlaf riss. Da waren die Leute schutzlos und verwirrt. Oftmals ergab sich aus ihren unbedachten Äußerungen, wenn die Beamten in ihre Wohnungen schwärmten, etwas, was man in den Verhören gegen sie verwenden konnte. Es war nicht einfach, besonnen zu bleiben, wenn die eigene Frau an den Haaren über den Boden geschleift wurde. Wie oft hatte Leo schon eine Tür eingetreten? Wie oft hatte er schon miterlebt, wie ein Ehepaar aus dem Bett gezerrt wurde, wie man ihnen Taschenlampen vor die Augen oder unter das Nachthemd hielt? Wie oft hatte er schon Beamte beim Anblick von Genitalien lachen hören? Wie viele Leute hatte er selbst aus dem Bett gezogen? Wie viele Wohnungen verwüstet? Und wie viele Kinder hatte er festgehalten, während man ihre Eltern fortschleppte? Er konnte sich nicht mehr erinnern, hatte die Namen und Gesichter verdrängt. Ein schwaches Gedächtnis war gar nicht mal unpraktisch. Hatte er es etwa kultiviert?
    Hatte er die Amphetamine vielleicht gar nicht geschluckt, um länger durchzuhalten, sondern um die Erinnerungen an seine Arbeit zu betäuben?
    Bei seinen Kollegen, die ihn sich untereinander ja ungestraft erzählen konnten, erfreute sich ein Witz großer Beliebtheit. Ein Mann und eine Frau lagen schlafend im Bett, als sie von einem lauten Klopfen an der Tür geweckt wurden. Da sie mit dem Schlimmsten rechneten, standen sie auf und küssten sich zum Abschied.
    Ich liebe dich, Frau. – Ich dich auch, Mann. Nachdem sie einander Lebewohl gesagt hatten, öffneten sie die Wohnungstür. Vor ihnen stand ein völlig aufgelöster Nachbar, der ganze Flur war voller Rauch und die Flammen schlugen bis zur Decke hoch. Da lachten der Mann und die Frau vor Erleichterung und dankten Gott, dass

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