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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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Ordnung, es macht uns nichts aus zu sterben? Und welchen Zweck hätte es, wenn wir sterben?
    Würde das deine Frau retten? Würdet ihr wieder glücklich vereint sein? Wenn das der Fall wäre, würde ich mit Freuden mein Leben für das eure opfern. Aber das würde nicht passieren. Wir würden lediglich alle miteinander zu Grunde gehen. Alle vier. Nur damit du mit der Gewissheit sterben dürftest, dass du ein guter Mensch warst.«
    Leo sah seine Mutter an. Ihr Gesicht war so bleich wie die labberigen Kohlblätter, die sie in der Hand hielt. Sie war gefasst. Sie widersprach dem nicht, was sie gerade gehört hatte, sondern fragte stattdessen nur: »Bis wann musst du dich entscheiden?«
    »Ich habe zwei Tage, um Beweise zu finden. Übermorgen muss ich Bericht erstatten.«
    Seine Eltern konzentrierten sich wieder auf das Abendessen. Sie umwickelten das Hackfleisch mit Kohlblättern und legten die Päckchen nebeneinander auf ein Backblech. Sie sahen aus wie eine Reihe dicker, abgeschnittener Daumen. Keiner sagte etwas, bis das Blech voll war. Dann fragte Stepan: »Isst du mit uns?«
    Leo folgte seiner Mutter ins Wohnzimmer und sah, dass sie bereits für drei gedeckt hatte. »Erwartet ihr jemanden?«
    »Wir erwarten Raisa.«
    »Meine Frau?«
    »Sie kommt zum Essen. Als du an die Tür geklopft hast, dachten wir schon, sie sei es.«
    Anna stellte einen vierten Teller hin und erklärte: »Sie kommt fast jede Woche. Sie wollte nicht, dass du weißt, wie einsam es für sie ist, immer allein zu essen, nur mit dem Radio als Gesellschaft. Auch wenn das jetzt merkwürdig klingt, wir haben sie sehr liebgewonnen.«
    Es stimmte. Um sieben Uhr war Leo nie schon von der Arbeit zurück. Stalin, der an Schlaflosigkeit litt und nicht mehr als vier Stunden Ruhe pro Nacht brauchte, hatte dem Land eine Kultur der langen Arbeitstage verordnet. Leo hatte gehört, dass im Politbüro niemand gehen durfte, bevor die Lichter in Stalins Privatbüro gelöscht wurden, normalerweise irgendwann nach Mitternacht. Auf die Lubjanka traf diese Regel zwar nicht zu, aber ein ähnliches Maß an Arbeitseifer wurde durchaus erwartet. Nur wenige Beamte arbeiteten weniger als zehn Stunden pro Tag, selbst wenn sie einige dieser Stunden mit Nichtstun verbrachten.
    Es klopfte. Stepan öffnete die Tür und ließ Raisa in den Flur treten. Als sie Leo sah, war sie ebenso überrascht, wie es seine Eltern gewesen waren. Stepan erklärte ihr:
    »Er hatte in der Gegend zu tun. Nun können wir wenigstens einmal zusammen essen wie eine richtige Familie.«
    Raisa zog ihre Jacke aus, und Stepan nahm sie ihr ab.
    Sie ging zu Leo und musterte ihn von oben bis unten.
    »Was sind das denn für Klamotten?«
    Leo schielte auf seine Hose und sein Hemd – die Sachen von Toten. »Die habe ich geliehen. Auf der Arbeit.«
    Raisa lehnte sich dicht an Leo heran und flüsterte ihm zu: »Das Hemd riecht.«
    Leo ging ins Bad. »Ich glaube, ich mache mich besser mal frisch.«
    An der Badezimmertür blickte er sich kurz um und sah, wie Raisa ihren Eltern beim Auftragen half.
    Leo war ohne fließend warmes Wasser aufgewachsen.
    Seine Eltern hatten sich ihre alte Wohnung mit dem Onkel seines Vaters und dessen Familie geteilt. Es gab nur zwei Schlafzimmer, eins für jede Familie. Die Wohnung selbst verfügte weder über eine Toilette noch über ein Badezimmer. Alle Hausbewohner mussten das stille Örtchen draußen benutzen. Morgens bildeten sich lange Schlangen davor, und im Winter fiel beim Warten der Schnee in dichten Flocken auf sie. Ein eigenes Waschbecken mit warmem Wasser war unvorstellbarer Luxus gewesen. Leo zog das Hemd aus und wusch sich. Als er fertig war, öffnete er die Tür und fragte seinen Vater, ob der ihm eines leihen könne. Obwohl der Körper seines Vaters von der Arbeit verbraucht und gebeugt war, vom Fließband so verformt wie das Metall, aus dem er selbst die Panzergranaten geformt hatte, hatte er doch ungefähr den gleichen Körperbau wie sein Sohn, eine athletische Gestalt mit breiten, muskulösen Schultern. Das Hemd passte Leo fast wie angegossen.
    Nachdem er sich umgezogen hatte, setzte er sich zum Essen hin. Während die Golubsti im Ofen schmorten, aßen sie Sakuski, einen Vorspeisenteller mit Gurken, Pilzen und Salat sowie für jeden eine Scheibe Rinderzunge, die mit Majoran gekocht und dann in Gelatine kaltgestellt worden war, dazu Meerrettich. Es war eine ausgesprochen üppige Tafel. Leo konnte seine Augen einfach nicht abwenden und rechnete im Geiste aus, was jede

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