Kind 44
bloß das Haus brannte. Leo hatte den Witz schon in den verschiedensten Versionen gehört. Einmal waren es statt des Feuers bewaffnete Banditen, dann wieder ein Arzt mit einer schlimmen Nachricht. In der Vergangenheit hatte er darüber gelacht und geglaubt, dass ihm das nie passieren würde.
Raisa war schwanger. Änderte diese Tatsache nicht alles? Vielleicht änderte es ja die Haltung seiner Vorgesetzten seiner Frau gegenüber. Sie hatten sie nie gemocht. Sie hatte Leo keine Kinder geschenkt. In diesen Zeiten erwartete man, verlangte geradezu, dass Paare Kinder in die Welt setzten. Nach den Millionen Menschen, die im Kampf umgekommen waren, war Kinderkriegen geradezu eine gesellschaftliche Pflicht. Warum war Raisa nicht schwanger geworden? Diese Frage hatte ihre Ehe belastet. Die einzige Schlussfolgerung war, dass etwas mit ihr nicht stimmte. In letzter Zeit war der Druck massiver geworden. Die Frage wurde jetzt öfter gestellt. Raisa ging regelmäßig zu einem Arzt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Ihr Sexualleben war eher pragmatisch und durch äußeren Druck motiviert. Die Ironie blieb Leo nicht verborgen, dass seine Vorgesetzten just in dem Moment, wo sie bekommen hatten, was sie wollten, eine schwangere Raisa nämlich, ihre Meinung geändert hatten und sie jetzt tot sehen wollten. Sollte Leo vielleicht erzählen, dass sie schwanger war? Er verwarf die Idee wieder.
Eine Verräterin war eine Verräterin, da gab es keine mildernden Umstände.
Leo ging unter die Dusche. Das Wasser war kalt. Er zog sich an und machte sich zum Frühstück Hafergrütze. Er hatte keinen Appetit und sah zu, wie sie in der Schüssel hart wurde. Raisa kam in die Küche, setzte sich und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Leo stand auf.
Während er wartete, dass ihre Hafergrütze heiß wurde, sprach keiner von beiden ein Wort. Er stellte ihr die Schale hin. Sie sagte nichts. Er machte ein Glas schwachen Tee und stellte ihn zusammen mit dem Marmeladenglas auf den Tisch. »Ich werde versuchen, ein bisschen früher zu Hause zu sein.«
»Du musst für mich nicht deine Gewohnheiten ändern.«
»Ich versuche es trotzdem.«
»Leo, du musst für mich nicht deine Gewohnheiten ändern.«
Leo schloss die Wohnungstür hinter sich. Es dämmerte.
Vom Rand des Korridors konnte er 100 Meter weiter unten Leute auf die Straßenbahn warten sehen. Auf der 30. und obersten Etage verließ er den Lift und ging bis zu einer der Hausverwaltung vorbehaltenen Tür am Ende des Korridors, auf der EINTRITT VERBOTEN stand. Das Schloss war schon vor langer Zeit aufgebrochen worden. Die Tür führte zu einer Treppe, die wiederum aufs Dach führte. Als sie damals eingezogen waren, war er schon einmal hier oben gewesen. Wenn man sich nach Westen wandte, sah man die Stadt. Im Osten konnte man die ländlichen Ausläufer sehen, wo Moskau abrupt aufhörte und schneebedeckten Feldern Platz machte. Als er vor vier Jahren diese Aussicht bewundert hatte, hatte er sich für den glücklichsten Menschen auf der Welt gehalten. Er war ein Held, und das konnte er sogar mit Zeitungsausschnitten belegen. Er hatte einen einflussreichen Posten und eine wunderschöne Frau. Damals war sein Vertrauen in den Staat noch stark und unverbrüchlich gewesen. Vermisste er dieses Gefühl? Das Gefühl eines vollkommenen Vertrauens in sein Leben und seinen Platz in diesem Staat?
Ja, er vermisste es.
Er fuhr mit dem Lift zurück in den 14. Stock und betrat wieder die eigene Wohnung. Raisa war zur Arbeit gegangen. Ihre Frühstücksschale stand noch ungespült in der Küche. Er zog sich Jacke und Stiefel aus, wärmte sich die Hände auf und fing an zu suchen.
Leo hatte schon oft Durchsuchungen von Häusern, Wohnungen oder Büros organisiert und überwacht. Die MGB-Mitarbeiter betrachteten solche Einsätze regelrecht als Wettbewerb. Geschichten machten die Runde über die außerordentliche Gründlichkeit, die die Beamten an den Tag legten, um ihren Diensteifer zu beweisen. Wertvolle Gegenstände wurden grundsätzlich zertrümmert, Portraits und Bilder aus den Rahmen geschnitten, Bücher zerfetzt und manchmal ganze Wände eingerissen.
Obwohl dies seine eigene Wohnung und seine eigenen Sachen waren, nahm Leo sich vor, die Suche deswegen nicht anders durchzuführen. Er riss die Bettbezüge, Kissen und Decken heraus, drehte die Matratze um und tastete sie sorgfältig Zentimeter für Zentimeter ab wie ein Blinder, der Blindenschrift liest. Man konnte Papiere in Matratzen einnähen, die dann nicht
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