Kind 44
Matratze aufschlitzen. Leo packte seine Hand. »Man kann Sachen, die eingenäht sind, auch fühlen. Man braucht sie nicht aufzuschneiden.«
»Du willst die Bude tatsächlich anschließend wieder aufräumen?«
»So ist es.«
»Du glaubst also immer noch, dass deine Frau unschuldig ist?«
»Ich habe nichts gefunden, das etwas anderes nahelegen würde.«
»Darf ich dir mal einen Rat geben? Such dir eine andere Frau. Raisa ist eine Schönheit. Aber Schönheiten gibt es viele. Vielleicht wärst du besser dran mit einer, die nicht ganz so schön ist.«
Wassili griff in seine Tasche und zog einen Stapel Fotographien heraus. Er gab sie Leo. Es waren Fotos von Raisa und Iwan, dem Sprachlehrer, aufgenommen vor ihrer Schule. »Sie vögelt ihn, Leo. Sie verrät dich genauso wie den Staat.«
»Die da sind an der Schule aufgenommen worden. Die beiden sind Lehrer. Natürlich kann man dort gemeinsame Fotos von ihnen machen. Das beweist noch gar nichts.«
»Weißt du, wie er heißt?«
»Iwan, glaube ich.«
»Wir haben schon eine ganze Weile ein Auge auf ihn.«
»Wir haben auf ziemlich viele Leute ein Auge.«
»Vielleicht bist du ja auch ein Freund von ihm?«
»Ich bin ihm noch nie begegnet. Hab noch nie ein Wort mit ihm gewechselt.«
Wassili bemerkte den Haufen Kleider auf dem Boden, bückte sich und hob einen von Raisas Schlüpfern hoch.
Er rieb den Stoff zwischen den Fingern, drückte ihn zu einer Kugel zusammen und hielt sie sich vor die Nase.
Die ganz Zeit wandte er kein Auge von Leo. Doch anstatt sich durch die Provokation in Rage bringen zu lassen, versuchte Leo zum ersten Mal zu ergründen, was in seinem Stellvertreter vorging. Bislang war ihm das egal gewesen. Was für ein Mann war das eigentlich und warum hasste er ihn so sehr? Trieb ihn der berufliche Neid an oder nur der schiere Ehrgeiz? Als er Wassili jetzt so sah, wie er an Raisas Sachen herumschnüffelte, wurde Leo klar, dass sein Hass auf etwas Persönlichem gründete.
»Kann ich mich mal im Rest der Wohnung umsehen?«
Leo, der eine Falle befürchtete, antwortete: »Ich komme mit.«
»Nein, das würde ich lieber alleine machen, wenn du nichts dagegen hast.« Leo nickte. Wassili ging.
Leo bekam kaum noch Luft, vor Wut war ihm der Hals wie zugeschnürt. Er starrte nur auf das hochgeklappte Bett. Da wurde er von einer leisen Stimme neben ihm aufgeschreckt. Es war Fjodor.
»Dass du das hier alles machst. Die Kleider deiner eigenen Frau durchsuchst, dein Bett umwirfst, deine eigenen Dielen herausreißt. Dein ganzes Leben kaputtmachst.«
»Wir sollten alle bereit sein, uns solchen Durchsuchungen zu unterwerfen. Oberbefehlshaber Stalin ...«
»Ich weiß, ich weiß. Unser Führer sagt, dass man notfalls sogar seine eigene Wohnung durchsuchen dürfe.«
»Es kann nicht nur gegen jeden von uns ermittelt werden, es muss auch gegen jeden von uns ermittelt werden.«
»Und trotzdem wolltest du beim Tod meines Sohnes keine Ermittlungen aufnehmen. Du warst bereit, gegen deine Frau zu ermitteln, gegen dich selbst, deine Freunde und Nachbarn, aber seine Leiche wolltest du dir nicht anschauen. Du wolltest dir nicht die eine Stunde Zeit nehmen, um zu sehen, dass man seinen Bauch aufgeschlitzt hatte und wie er gestorben war, den Mund vollgestopft mit Erde.«
Fjodor war gefasst, er sprach mit leiser Stimme. Seine Wut brannte nicht mehr. Er hatte sie in Eis verwandelt.
Jetzt konnte er ihm offen und ehrlich die Meinung sagen, weil er wusste, dass Leo keine Bedrohung mehr darstellte.
»Du hast die Leiche doch selbst nicht gesehen, Fjodor.«
»Ich habe mit dem Alten gesprochen, der ihn gefunden hat. Er hat mir erzählt, was er gesehen hat. Ich habe das Entsetzen gesehen, das ihm noch in den Augen stand. Ich habe auch mit der Augenzeugin gesprochen, der Frau, die du verscheucht hast. Ein Mann hat meinen Jungen an der Hand gehalten und ihn über die Gleise geführt. Sie hat das Gesicht des Mannes gesehen. Sie könnte ihn beschreiben. Aber keiner will, dass sie redet, und jetzt hat sie Angst davor. Mein Junge wurde ermordet, Leo. Die Miliz hat dafür gesorgt, dass alle Zeugen ihre Aussagen revidiert haben. Damit hatte ich ja schon gerechnet. Aber du warst mein Freund.
Und du bist zu mir nach Hause gekommen und hast meine Familie angewiesen, das Maul zu halten. Hast einer trauernden Familie Angst gemacht. Du hast uns ein Märchen vorgelesen und von uns verlangt, dass wir diese Lügen glauben. Anstatt nach der Person zu suchen, die meinen Sohn getötet hat, hast du
Weitere Kostenlose Bücher