Kind 44
beiden Seiten hinunter. Das Innere der einen Hälfte war ausgehöhlt. Wenn man sie zusammenschob, sah es aus wie eine ganz normale Münze. Aber sie war hohl. Leo hatte solche Münzen schon gesehen. Man benutzte sie zum Schmuggeln von Mikrofilmen.
21. Februar
Anwesend bei Leos Absetzung waren Generalmajor Kuzmin, Wassili Nikitin und Timur Rafaelowitsch, der Beamte, der Leo bei Anatoli Brodskys Verhör ersetzt hatte. Leo kannte ihn nur flüchtig: ein ehrgeiziger, aber glaubwürdiger Mann, der nicht viele Worte machte.
Die Erkenntnis, dass Rafaelowitsch bereit gewesen war, das gesamte Geständnis einschließlich des Hinweises auf Raisa zu beglaubigen, war für Leo ein Schlag ins Gesicht. Der Mann war keiner von Wassilis Lakaien, weder respektierte noch fürchtete er ihn. Leo fragte sich, ob Wassili eine Möglichkeit gehabt hatte, Raisas Namen in das Geständnis zu schmuggeln. Auf Rafaelowitsch hatte er keinerlei Einfluss, wenn es nach dem Rang ging, war er dem anderen beim Verhör sogar untergeordnet gewesen. Die letzten beiden Tage war Leo bei dem, was er tat, davon ausgegangen, dass es sich bei dem Ganzen um einen Racheakt von Wassili handelte. Da hatte er sich also getäuscht. Wassili steckte nicht dahinter. Der Einzige, der ein solches Geständnis fälschen und dann auch noch von einem so hochrangigen Offizier bestätigen lassen konnte, war Generalmajor Kuzmin.
Die Falle hatte ihm kein anderer als sein Lehrmeister gestellt, derjenige, der Leo einst unter die Fittiche genommen hatte. Leo hatte seinen Rat hinsichtlich Anatoli Brodskys missachtet, und jetzt erteilte man ihm eine Lektion. Was hatte Kuzmin noch gleich zu ihm gesagt? Gefühlsduseleien können einen Mann blind für die Wahrheit machen.
Es war ein Test, eine Aufgabe. Sie wollten Leos Tauglichkeit als Offizier prüfen. Mit Raisa hatte das gar nichts zu tun. Rein gar nichts. Warum hätten sie sonst ausgerechnet den Ehemann der Frau beordern sollen, die Untersuchungen zu leiten, wenn nicht, um herauszufinden, wie der sich dabei verhalten würde? Und war nicht Leo derjenige gewesen, den sie beschattet hatten? War Wassili nicht vorbeigekommen, um zu überprüfen, ob er die Wohnungsdurchsuchung auch gründlich durchführte? Das, was sich in der Wohnung befand, hatte ihn überhaupt nicht interessiert. Alles passte zusammen. Wassili hatte ihn gestern aufgestachelt, hatte ihm geraten, seine Frau zu denunzieren, weil er hoffte, dass Leo genau das Gegenteil machen und für sie eintreten würde. Er wollte gar nicht, dass Leo Raisa denunzierte. Er wollte, dass er den Test nicht bestand, dass er sein Privatleben über die Partei setzte.
Es war ein Trick. Alles, was Leo tun musste, war, Generalmajor Kuzmin zu beweisen, dass er bereit war, seine Frau zu denunzieren. Zu beweisen, dass seine höchste Loyalität dem MGB galt, dass sein Glaube über jeden Zweifel erhaben war. Zu beweisen, dass sein Herz grausam sein konnte. Wenn er das machte, dann waren sie alle gerettet: Raisa, sein ungeborenes Kind, seine Eltern. Seine Zukunft beim MGB war gesichert und Wassili konnte ihm egal sein.
Aber war das nicht nur eine Vermutung? Was, wenn der Verräter wirklich das war, was er gestanden hatte: eben ein Verräter? Was, wenn er doch irgendwie mit Raisa zusammengearbeitet hatte? Vielleicht hatte er ja die Wahrheit gesagt. Wie konnte sich Leo so sicher sein, dass der Mann unschuldig war? Und wie konnte er sich sicher sein, dass seine Frau unschuldig war? Immerhin gab sie sich mit diesem Sprachlehrer ab, einem Dissidenten. Warum? Was hatte diese Münze in ihrer Wohnung zu suchen? Waren denn nicht die sechs anderen in dem Geständnis Erwähnten verhaftet und erfolgreich verhört worden? Die Liste hatte sich als echt erwiesen, und Raisas Name stand darauf. Doch, sie war eine Spionin, und hier in seiner Tasche hatte er den Beweis dafür, die Kupfermünze. Er brauchte nur diese Münze auf den Schreibtisch zu legen und zu empfehlen, dass man sowohl sie als auch Iwan Tschukow zum Verhör abholte. Man hatte ihn zum Narren gehalten.
Wassili hatte recht, sie war eine Verräterin. Und das Kind war von einem anderen. Hatte er nicht immer schon gewusst, dass sie ihm untreu war? Sie liebte ihn nicht, da war er sich sicher. Warum sollte er alles für sie riskieren? Für eine Frau, die ihm die kalte Schulter zeigte, ihn bestenfalls tolerierte. Sie war eine Bedrohung all dessen, wofür er gearbeitet hatte, alles, was er für seine Eltern und sich selbst erreicht hatte. Sie war eine Bedrohung
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