Kind 44
für das ganze Land, sein Land, für dessen Verteidigung Leo gekämpft hatte.
Es war doch ganz einfach: Wenn Leo aussagte, dass sie schuldig war, würde die Sache für ihn und seine Eltern glimpflich ausgehen. Unter Garantie. Es war der einzig sichere Weg. Und wenn es hier doch nur um eine Überprüfung von Leos Charakter ging, dann würden sie Raisa ebenfalls verschonen. Und sie brauchte es nicht einmal zu erfahren. Wenn sie dagegen eine Spionin war, dann hatten diese Männer sowieso schon längst die Beweise und wollten nur noch herausfinden, ob Leo mit ihr unter einer Decke steckte. Wenn sie eine Spionin war, dann musste er sie denunzieren, dann verdiente sie zu sterben. Das einzig Richtige war, dass Leo seine Frau denunzierte.
Generalmajor Kuzmin begann mit der Befragung. »Leo Stepanowitsch, wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihre Frau für ausländische Geheimdienste arbeitet. Sie selbst werden keinerlei Verbrechen verdächtigt. Aus diesem Grund haben wir auch Sie gebeten, die Anschuldigungen zu prüfen. Bitte sagen Sie uns, was Sie herausgefunden haben.«
Jetzt hatte Leo die Bestätigung, auf die er gewartet hatte. Generalmajor Kuzmins Angebot war klar. Wenn er seine Frau denunzierte, genoss er weiterhin sein ungebrochenes Vertrauen. Man war gar nicht an Raisa interessiert. Wie hatte Wassili noch gleich gesagt? Solltest du diesen Skandal überleben, dann wirst du eines Tages der Leiter des MGB, da bin ich mir sicher.
Zwischen ihm und seiner Beförderung stand nur noch dieser eine Satz. Alle im Raum schwiegen. Generalmajor Kuzmin lehnte sich vor. »Leo?«
Leo glättete seine Uniformjacke. »Meine Frau ist unschuldig.«
Drei Wochen später
Westlich des Ural
die Stadt Wualsk
13. März
Das Montageband für den GAZ-20 wechselte zur Spätschicht. Ilinaja Morosowna hörte auf zu arbeiten und begann sich mit einem Stück schwarzer, ranzig riechender Seife die Hände zu waschen, der einzigen, die zu bekommen war, wenn überhaupt. Das Wasser war kalt und die Seife machte keinen Schaum, sondern löste sich nur in ölige Bröckchen auf. Trotzdem konnte Ilinaja an nichts anderes denken als an die Stunden zwischen jetzt und dem Beginn ihrer nächsten Schicht. Sie hatte den Abend durchgeplant. Erst würde sie die schmierigen Feilspäne unter ihren Fingernägeln wegschrubben.
Dann würde sie nach Hause gehen, sich umziehen, etwas Rouge auflegen und sich zum Basarow aufmachen, einem Restaurant neben dem Bahnhof.
Das Basarow war beliebt bei Geschäftsleuten und Regierungsbeamten, die hier Halt machten, bevor sie mit der Transsibirischen Eisenbahn in Richtung Osten oder Westen weiterfuhren. Das Restaurant bot Speisen an, die Ilinaja allesamt grauenhaft fand: Sachen wie Hirsesuppe, Gersten-Kasha und Salzheringe. Vor allem aber gab es hier Alkohol. Da der öffentliche Alkoholausschank illegal war, sofern man nicht auch eine Speisekarte hatte, war der Fraß nur Mittel zum Zweck, ein Teller Essen gleichbedeutend mit der Lizenz zum Trinken.
In Wahrheit war das Restaurant eigentlich nur eine Bumsbude. Das Gesetz, wonach keinem mehr als 100 Gramm Alkohol verkauft werden durfte, wurde ignoriert. Basarow, der Wirt und Namensgeber des Restaurants, war immer besoffen und oft gewalttätig. Und wenn Ilinaja in seinem Laden auf Kundenfang gehen wollte, erwartete er eine anständige Beteiligung. Es war unmöglich, so zu tun, als trinke sie nur zum Vergnügen, wenn sie immer mal wieder mit zahlenden Kunden verschwand. Kein Mensch trank hier nur um des Trinkens willen. Hier verkehrten nur Durchreisende, keine Einheimischen. Aber das hatte auch seine Vorteile. Die Einheimischen ließen sich nicht mehr mit ihr ein, seit sie kürzlich krank geworden war. Wunde Stellen, rote Flecken, Ausschlag und so weiter. Ein paar Stammkunden hatten in etwa die gleichen Symptome bekommen und es in der Stadt herumerzählt. Jetzt kam sie nur noch mit Leuten ins Geschäft, die sie nicht kannten. Leuten, die nicht lange dablieben und erst merkten, dass sie Eiter pissten, wenn sie wieder in Wladiwostok oder Moskau waren, je nachdem, in welche Richtung sie fuhren.
Der Gedanke, dass sie andere mit irgendwas ansteckte, bereitete ihr nicht eben Vergnügen, auch wenn es nicht gerade nette Zeitgenossen waren. Aber wenn man in dieser Stadt wegen einer Geschlechtskrankheit einen Arzt aufsuchte, war das gefährlicher als die Infektion selbst. Als unverheiratete Frau konnte man da ebenso gut gleich sein schriftliches Geständnis einreichen, unterzeichnet mit seinem
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