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Kind 44

Kind 44

Titel: Kind 44 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Rob Smith
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den Aberglauben, dass das Gesicht des Mörders sich im Auge des Opfers verewigt. Er beugte sich näher vor und studierte die blassblauen Augen. Plötzlich war es ihm peinlich, und er richtete sich auf. Tjapkin lächelte.
    »Wir gucken alle, die Ärzte genauso wie die Polizisten.
    Auch wenn der Verstand uns sagt, dass wir da nichts finden werden, wollen wir doch alle sichergehen. Es würde Ihre Arbeit natürlich erheblich vereinfachen, wenn es stimmte.«
    »Wenn es stimmte, würden die Mörder ihren Opfern einfach die Augen ausstechen.«
    Leo hatte sich noch nie eine Leiche angesehen, jedenfalls nicht mit forensischem Interesse, und er wusste nicht, wie man da vorging. Die Verstümmelung schien ihm mit solcher Raserei durchgeführt worden zu sein, dass nur ein Wahnsinniger so etwas vollbracht haben konnte. Man hatte ihr den Körper aufgeschlitzt. Leo hatte genug gesehen. Warlam Babinitsch passte ins Bild. Die Erde musste er aus Gründen mitgebracht haben, die wohl nur er selbst verstand.
    Leo wollte schon gehen, aber Tjapkin schien, nachdem er schon den ganzen Weg in den Keller hinabgestiegen war, nicht in Eile zu sein. Er beugte sich ein Stück weiter hinunter und musterte etwas, das eigentlich nur aussah wie eine zerhackte Masse aus Muskelfleisch und Gewebe. Mit der Spitze seines Füllfederhalters tastete er in dem verstümmelten Torso herum und untersuchte die Wunden.
    »Können Sie mir sagen, was in dem Bericht stand?«
    Leo holte seine Unterlagen hervor und las laut vor.
    Tjapkin setzte seine Untersuchung fort. »Da wird nicht erwähnt, dass ihr Magen fehlt. Er wurde von der Speiseröhre abgetrennt und herausgeschnitten.«
    »Wie gut wurde es gemacht? Ich meine ...«
    »Sie meinen, ob das ein Arzt gemacht hat?« Leicht grinsend fügte er hinzu: »Kann schon sein, aber die Schnitte sind sehr dilettantisch geführt worden. Nicht gerade fachkundig. Allerdings würde mich überraschen, wenn der hier zum ersten Mal ein Messer in der Hand gehabt hätte, jedenfalls, um Fleisch damit zu schneiden. Die Schnitte sind nicht von einem Experten, aber trotzdem mit großer Sicherheit vorgenommen worden. Das waren keine zufälligen Schnitte, sondern gezielte.«
    »Vielleicht ist es also nicht das erste Kind, das er umgebracht hat?«
    »Das würde mich überraschen.«
    Leo befühlte seine Stirn und stellte fest, dass er trotz der Kälte schwitzte. War es denn möglich, dass die beiden Morde, Fjodors kleiner Junge und dieses Mädchen, etwas miteinander zu tun hatten?
    »Wie groß wäre ihr Magen denn gewesen?«
    Über dem Torso skizzierte Tjapkin mit dem Federhalter in groben Zügen die Umrisse eines Magens. Er fragte:
    »Ist er denn nicht in der Nähe gefunden worden?«
    »Nein.«
    Entweder hatten sie den Magen bei ihrer Suche übersehen, was ihm unwahrscheinlich vorkam, oder der Mörder hatte ihn mitgenommen.
    Leo schwieg einen Moment, dann fragte er: »Ist sie vergewaltigt worden?«
    Tjapkin untersuchte die Vagina des Mädchens. »Sie war keine Jungfrau mehr.«
    »Aber das bedeutet noch nicht, dass sie vergewaltigt wurde.«
    »Hatte sie bereits vorher sexuellen Verkehr?«
    »Das hat man mir so gesagt.«
    »Ihre Genitalien sind nicht verletzt. Keine Prellungen, keine Einschnitte. Und bedenken Sie, dass die Verletzungen nicht auf die Sexualorgane zielten. Keine Schnitte an den Brüsten oder im Gesicht. Der Mann, der das hier gemacht hat, war an einem kleinen Bereich unterhalb ihres Brustkorbs und oberhalb ihrer Vagina interessiert. An ihren Eingeweiden, den Verdauungsorganen. Es sieht zwar chaotisch aus, aber eigentlich ist er sehr gezielt vorgegangen.«
    Leo hatte vorschnell geurteilt, dass dies ein Akt der Raserei gewesen sei. Das ganze Blut und die Verstümmelungen sahen einfach zu wüst aus. Aber es war überhaupt nicht chaotisch. Es war bedacht, präzise und planvoll. »Kennzeichnen Sie die Leichen, wenn Sie sie hierherbringen? Aus Gründen der Identifikation?«
    »Nicht dass ich wüsste.«
    »Was ist das?« Um das Fußgelenk des Mädchens wand sich eine Schlaufe. Die Schnur war zu einer Schlinge zusammengezogen, ein Ende baumelte von der Bahre hinunter. Wie ein Fußkettchen für Arme. Wo das Seil an der Haut gescheuert hatte, war sie abgeschürft.
    Tjapkin entdeckte ihn zuerst. In der Tür stand General Nesterow. Unmöglich zu sagen, wie lange er schon dort gestanden und sie beobachtet hatte. Leo trat von der Leiche zurück. »Ich bin hergekommen, um mich mit den Methoden vertraut zu machen.«
    Nesterow wandte sich an

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