Kind der Hölle
Einige andere Türen waren verschlossen und ließen sich mit keinem der Schlüssel an Teds Schlüsselbund öffnen.
Im zweiten Stock, unter den schweren Eichenbalken, die das Dach trugen, gab es ein weiteres halbes Dutzend Zimmer mit Mansardenfenstern, die auf der Westseite einen schönen Blick auf die Stadt boten, während auf der Ostseite dichte Wälder zu sehen waren.
»Na, was haltet ihr davon?« fragte Ted, als die Familie nach dieser ersten Besichtigung zum Auto zurückging. Seine aufgeregte Stimme versetzte Janet sofort in Alarmbereitschaft. Vor einer Viertelstunde war ihr im Haus eine Idee gekommen – eine Idee, die sie jedoch sofort wieder verworfen hatte. Die gespannte Frage ihres Mannes verriet ihr jetzt, daß er dieselbe Idee gehabt hatte, und sie wußte im voraus, was er als nächstes sagen würde. »Glaubt ihr nicht auch, daß es ein großartiges kleines Hotel abgeben würde?«
Mindestens ein Dutzend negativer Antworten lag Janet auf der Zunge, doch anstatt auch nur einen einzigen Einwand vorzubringen, drehte sie sich langsam um und betrachtete noch einmal das riesige verwahrloste Haus, das 40 Jahre unbewohnt gewesen war.
Sie dachte an Ted, an seine Zukunftsaussichten in Shreveport. Obwohl sie noch nicht darüber gesprochen hatten, war ihr klar, daß er dort in absehbarer Zeit keinen Job mehr bekommen würde.
Und das bedeutete, daß nichts sie in Shreveport hielt, denn Familienangehörige hatten sie dort beide nicht.
In den letzten Jahren hatten sich auch die meisten Freunde zurückgezogen, weil sie mit Teds Trunksucht nicht zurechtkamen. Auch die Freunde der Zwillinge kamen nicht mehr zu ihnen.
Obwohl Janet nie ein besonders religiöser Mensch gewesen war, fragte sie sich unwillkürlich, ob es wirklich purer Zufall war, daß Cora Conway ausgerechnet jetzt das Zeitliche gesegnet und ihnen dieses Haus beschert hatte – in einem Moment, da ihnen das Wasser bis zum Hals stand.
»Ich gebe es nur ungern zu«, beantwortete sie Teds Frage, während sie in den Wagen stieg, »aber du könntest recht haben.«
Vom Rücksitz aus warf nun auch Kim einen letzten Blick auf das Haus. Wieder bekam sie eine Gänsehaut, wieder lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken.
Und sie hatte nur einen Gedanken:
Nein! Bitte, lieber Gott, nein! Laß nicht zu, daß wir hier leben müssen!
Zwei Augenpaare, die einander nicht sehen konnten, blickten dem verbeulten, staubigen Toyota nach, bis er hinter einer Kurve verschwand. Erst nachdem die Staubwolke, die der Wagen aufgewirbelt hatte, verflogen war, starrten die beiden Augenpaare erneut das düstere Gebäude an, das in den letzten vier Jahrzehnten leer gestanden hatte.
Beide Beobachter waren sicher, daß es demnächst wieder bewohnt sein würde. Ihre Blicke richteten sich gleichzeitig auf die riesige Magnolie, an deren unterstem Ast George Conway sich erhängt hatte.
Einer der Beobachter begann lautlos zu beten.
Der andere begann lautlos zu fluchen.
6. Kapitel
Drei Tage später waren sie wieder in St. Albans. Als ihr Vater vor der neugotischen Fassade der Kirche St. Ignatius Loyola parkte, betrachteten Kim und Jared skeptisch die Schule auf der anderen Straßenseite. Die Schule, die sie vom nächsten Tag an besuchen würden.
»Vielleicht wird es ja ganz okay sein«, murmelte Jared, obwohl er sich genausowenig wie Kim vorstellen konnte, was sie hier erwartete. »Ich meine, so groß kann der Unterschied doch nicht sein.«
»Es wird ein gewaltiger Unterschied sein«, widersprach sein Vater, worauf Jared wünschte, er hätte den Mund gehalten. »Hier werdet ihr nämlich eine anständige Erziehung erhalten. In Konfessionsschulen werden die Kinder nicht so verhätschelt wie in eurer bisherigen Schule, und man duldet keinen Unfug.«
Jared wußte, daß es sinnlos wäre, ihn darauf hinzuweisen, daß Kim und er nie irgendwelche schulischen Probleme gehabt hatten, und daß ihre Zeugnisse sich wirklich sehen lassen konnten. Was auch immer sie in den letzten Tagen vorgebracht hatten, ihr Vater wollte kein Wort davon hören.
Sie zogen nach St. Albans um, weil ein Onkel, der noch vor Teds Geburt gestorben war, ihnen ein Haus und genug Geld hinterlassen hatte, um dieses Haus in ein Hotel zu verwandeln.
Und die Zwillinge sollten in Zukunft die Konfessionsschule besuchen, weil jener Onkel es so gewollt hatte: eine Klausel im Testament besagte, daß alle Kinder, die von dem Treuhandvermögen profitierten, in die St. Ignatius Loyola School gehen mußten.
»Das wollen wir
Weitere Kostenlose Bücher