Kind der Hölle
schreckliche Kälte lähmte nicht nur ihre Lungen, sondern auch ihre Stimmbänder. Kim geriet in Panik.
Ohne jede Vorwarnung, von einer Sekunde zur anderen, ging von dem Haus eine tödliche Bedrohung aus. Gleich würde sie sterben, verschlungen werden von diesem modrigen gruftartigen Bau. »Kim? He, Kim, was ist los?«
Sie wirbelte bestürzt auf dem Absatz herum und stellte fest, daß Jared sie besorgt musterte.
»Was ist passiert?« fragte er wieder. »Warum hast du nach mir gerufen?«
Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte Kim immer noch sprachlos, dann verschwanden die seltsamen Phänomene – die prickelnde Haut, der eisige Schauer, die Lähmung – so schnell, wie sie gekommen waren.
So schnell und so vollständig, daß sogar die Erinnerung daran verblaßte – wie bei einem Traum, der im Morgenlicht von einem Moment auf den anderen total aus dem Gedächtnis gelöscht wird.
»Ich … ich habe nicht nach dir gerufen«, stammelte sie. Oder hatte sie es vielleicht doch getan? Ganz vage erinnerte sie sich daran, es versucht zu haben.
Jareds Besorgnis schlug in Angst um. Vor wenigen Sekunden war er in einem der Schlafzimmer ganz sicher gewesen, Kims Stimme zu hören. Und sie hatte nicht nur nach ihm gerufen.
Nein, sie hatte verzweifelt um Hilfe geschrien.
Er hatte es gehört.
Aber was hätte seine Schwester dermaßen erschrecken können? Er schaute sich mit gerunzelter Stirn um, ohne zu wissen, wonach er suchte. Hatte sie eine Maus oder vielleicht sogar eine Ratte gesehen? Doch Kim war kein Angsthase. Irgendwo umherhuschende Lebewesen hätten ihr allenfalls einen überraschenden Aufschrei entlockt.
Was er gehört hatte – oder zu hören geglaubt hatte -, war der Hilfeschrei eines Menschen in höchster Todesgefahr.
Und jetzt starrte sie ihn mit schiefgelegtem Kopf und weit aufgerissenen Augen an, sichtlich verwirrt.
Ihm fiel plötzlich ein Vorfall ein, der schon mehrere Jahre zurücklag. Sie waren damals elf gewesen, und ihre Mutter hatte mit ihnen ein Picknick am See veranstaltet. Kim und er schwammen ein Stück hinaus, und er kletterte auf ein Holzfloß, legte sich auf den Rücken und betrachtete die dahinziehenden Wolken am Himmel, als er Kim um Hilfe schreien hörte. Er sprang auf und hielt nach ihr Ausschau, aber sie war nirgends zu sehen.
Dann schaute er nach unten.
Kim lag auf dem Grund des Sees und starrte mit schreckensweit aufgerissenen Augen zu ihm empor.
Sie bewegte sich nicht.
Ohne zu überlegen, tauchte er nach ihr, zog sie an die Oberfläche und hievte sie auf das Floß.
Während er sich bemühte, das Wasser aus Kims Lungen zu pressen, schrie er laut um Hilfe. Gleich darauf waren dann Erwachsene zur Stelle, die Wiederbelebungsversuche machten. Jared kam es wie eine Ewigkeit vor, bis Kim wieder selbständig zu atmen begann. Wie man ihm aber später erzählte, hatte es nur wenige Minuten gedauert.
Auf die Frage, woher er gewußt hatte, daß seine Schwester am Ertrinken gewesen sei, stellte sich heraus, daß nur er ihren Hilfeschrei gehört hatte.
Niemand sonst.
Als er dann wieder logisch denken konnte und sich die Situation nochmals ins Gedächtnis rief, wurde ihm klar, daß Kim unmöglich wirklich geschrien haben konnte. Das war unter Wasser völlig ausgeschlossen.
Es mußte, so entschied er schließlich, das »Zwillings-Phänomen« gewesen sein, jene seltsame, fast mystische Verbindung, die zwischen ihm und Kim von klein auf bestand.
Doch jetzt, in dem alten Haus, sah er beim besten Willen nichts, was sie zu einem solchen Schreckensschrei hätte veranlassen können.
Wie so oft schien Kim seine Gedanken zu lesen – wieder das Zwillings-Phäomen! »Jared, was geht hier vor? Ich schwöre dir, ich habe dich nicht gerufen!« Sie warf ihm einen eindringlichen Blick zu. »Ich habe nicht einmal im Geiste nach dir gerufen, so wie damals auf dem Grund des Sees.«
Nach kurzem Zögern zuckte Jared mit den Schultern. »He, woher soll ich das wissen, wenn du selbst dich nicht erinnern kannst? Vielleicht habe ich ja gar nicht dich gehört, sondern ein Gespenst.« Er schaute den Korridor entlang, tat so, als würden ihm vor Angst die Knie schlottern, und rollte mit den Augen. »Sollen wir nach ihm suchen? Bei Gott, wenn es Gespenster gibt, müßte es hier von ihnen nur so wimmeln.«
Kim, die ihr unheimliches Erlebnis schon fast vergessen hatte, folgte ihm begierig von Raum zu Raum. Sie entdeckten sechs Schlafzimmer – drei davon mit kleinen angrenzenden Salons – und drei Badezimmer.
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