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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kilpatrick
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bellen!«
    Als sie das nächste Mal ausstiegen, ließ er das Ende einer ein Meter achtzig langen Kette an dem Ring vorn an ihrem Halsband einrasten, das andere Ende befestigte er an seiner Gürtelschlaufe, an der bereits eine Handschelle hing.
    Als führte er einen Hund aus, ging es ihr durch den Kopf. Der Gedanke ließ ihre Stimmung auf den Nullpunkt sinken. Doch schon bald sollte ihr die Situation viel zu unangenehm werden, um noch deprimiert zu sein.
    Sie schlenderten gemächlich eine Promenade in der Altstadt entlang,  André hatte den Arm um ihre Hüfte geschlungen, und die Kette ver band sie miteinander.
    In diesem Teil der Stadt herrschte ein reges Treiben. Yuppies, Künstler und Schauspieler drängten sich Seite an Seite mit Nutten, Drogensüchtigen und Obdachlosen, eine bunte Mischung ausgeflippter Typen. Auf der Straße zogen Jongleure und Pantomimen ihre Show ab, handgefertigter Schmuck, Bilder und gestohlene Walkmans wurden verkauft, die Leute führten ihre Pitbulls und Chihuahuas aus. Stadtstreicherinnen in Kleidern aus verblichener gelber oder orangefarbener Seide bettelten um ein paar Münzen, Musiker spielten auf ihren an Miniaturverstärker angeschlossenen Instrumenten nervtötend laute Musik, Maler zeichneten Karikaturen in Pastellfarben auf den Bürgersteig, teuer herausgeputzte vornehme ältere Damen flirteten mit bisexuellen Strichern, die allein schon durch ihre Kleidung die Aufmerksamkeit auf ihre Genitalien lenkten. Tunesier rauchten aromatisch duftenden Tabak aus langstieligen Pfeifen, Paare wiegten ihre Hüften zu der Musik, die aus der offenen Tür eines nostalgischen Nachtclubs drang, und sie alle schienen André zu kennen. Viele der Frauen begrüßten ihn mit einem leidenschaftlichen Kuss, und auch einige der Männer. Und jeder von ihnen warf einen prüfenden Blick auf seine neueste Eroberung - Carol.
    Es war ihr peinlich, und sie fühlte sich unbehaglich. Sie kam sich vor, als würde sie in ihre Bestandteile zerlegt, beiseite geschoben - und dann wieder mit viel zu viel Aufmerksamkeit bedacht. Sie fühlte sich regelrecht in die Ecke gedrängt.
    Jeder wusste irgendetwas über sie zu sagen. Und sie verstand nicht ein einziges Wort.
    André schien alles voller Begeisterung aufzunehmen. Wie es aussieht, ist er sehr beliebt, dachte sie. Bei diesen Spinnern fühlt er sich wohl. Er sonnte sich in der allgemeinen Aufmerksamkeit und lächelte voller Sammlerstolz, als diese Geschöpfe der Nacht so viel Aufhebens um Carol veranstalteten.
    Nach einer Zeit, die ihr wie Stunden vorkam, ging er mit ihr in ein kleines Café in einer engen Gasse, die in der Nähe von La Grosse Cloche  am Ende der Promenade abzweigte, einem riesigen gotischen Glockenturm aus dem achtzehnten Jahrhundert, dessen herausragendstes Merkmal eine große von anmutigen Figuren umgebene Uhr war. Sie setzten sich ins Freie, wo jeder sie sehen konnte. André plauderte mit den Leuten an den Tischen ringsum und grüßte die Vorübergehenden. Für Carol bestellte er einen Spinatsalat und eine Scheibe Leber, die mit Pommes Frites serviert wurde. Irgendwann, während André sich gerade mit jemandem unterhielt, fragte der Kellner sie in gebrochenem Englisch, ob sie etwas zu trinken wünsche.
    »Vin«, erwiderte sie und fügte hinzu: »rouge«, zwei der zirka ein Dutzend französischen Wörter, die sie beherrschte. Doch als der Wein gebracht wurde, bat André den Kellner, ihn wieder mitzunehmen und ihr stattdessen ein Glas Milch zu bringen.
    Gegen vier Uhr morgens verließen sie das Café. Er nahm sie bei der Hand, während sie hinab zum Fluss und über die Pont de Pierre gingen. Unterwegs wies André sie auf ein paar Sehenswürdigkeiten hin, so als sei sie eine Bekannte, die die Stadt besuchte. Das Monument des Girondins, das Hotel de Ville und die gotische Kathedrale Saint-André mit dem daneben gelegenen Tour Pey-Berland. »Siehst du die goldene Marienstatue da oben auf dem Turm?«, fragte er, indem er sie mit einer Kopfbewegung darauf aufmerksam machte. »Von St. André aus führt ein unterirdischer Gang zur Heiligen Jungfrau.«
    Schließlich überquerten sie wieder die Garonne und gingen am linken Ufer entlang, denselben Weg, den Carol genommen hatte, als der Zimmermann hatte sterben müssen. Heute Nacht führte der Fluss mehr Wasser. Sie kamen an der Stelle vorüber, an der es geschehen war, und gingen in westlicher Richtung weiter, vorbei an den großen Schiffen. Dabei entfernten

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