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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kilpatrick
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vorsichtig aus oder zeigten ganz einfach mehr Interesse daran, etwas von sich selbst preiszugeben.
    »Wie dem auch sei«, redete Gerlinde weiter, »ich war damals zwanzig und lebte in Berlin. Das war 1958, und es gab ein paar Wahnsinns-Schuppen in der Stadt, wo die Maler und Schriftsteller und Musiker hingingen - wir nannten es eine Szene, den letzten Schrei, direkt aus New York. Die >Künstlerhütte< war einer davon, und >Das andere
Endes<, ja, ich glaube, so übersetzt man es wohl. Wir waren die Beatgeneration, die einschlägige Presse nannte uns Beatniks.«
    Lachend blickte Carol zu Gerlinde hinüber. »Ich sehe es regelrecht vor mir. Du in einer schwarzen Strumpfhose.«
    »Strumpfhosen? Die gab es damals noch nicht! Aber ich trug dasselbe wie alle anderen, einen schwarzen Hüfthalter, schwarze Unterwäsche und schwarze Nahtstrümpfe, einen gerade geschnittenen schwarzen Rock, einen engen schwarzen Rollkragenpullover und, genau, schwarze Schuhe mit Pfennigabsätzen. Das gehörte einfach dazu. Ich trug mein Haar damals lang, offen bis zur Hüfte, mit einem Mittelscheitel, weißen Lippenstift, die Augen stark geschminkt, und dazu klobige Plastikohrringe. Ich gab mich cool, mit anderen Worten: intellektuell.« Gerlinde lachte. »Ich sage dir, Schätzchen, ich hatte eine Menge Spaß damals. Natürlich entwirft die Jugend immer eine Art Szene für sich selbst, seien es Hippies, Punks oder New Wave. Aber diese Szene war exklusiver, wenigstens in Berlin. So groß war sie eigentlich gar nicht - wenn es hochkam, gab es vielleicht hundert von uns. Selbstverständlich folgten wir nicht dem Mainstream, das war ein Muss. Die Jungs trugen ebenfalls Schwarz und hatten ein Barett auf. Sie spielten Bongos in den Nachtclubs und rezitierten Gedichte, die keinerlei Sinn ergaben, und der Rest von uns saß nur da und schnippte cool mit den Fingern. Das war unsere Art zu applaudieren.«
    Carol lachte. »Warst du auch eine Künstlerin?«
    »Aber natürlich. Jeder hat damals mitgemacht. Ich male heute noch. Hey, wenn du Lust hast, nehme ich dich mal mit in mein Atelier und zeige dir, was ich so male - es ist auf der anderen Seite des Flurs, deinem Zimmer direkt gegenüber.«
    Carol rutschte nervös auf ihrem Sitz hin und her. »Ich würde deine Arbeit wirklich gern sehen, aber André hat mir verboten, die anderen Räume im zweiten Geschoss zu betreten.«
    »Der Kerl ist ja so ein Arschloch! Dann darf ich dich da nicht reinlassen, weil er dir nicht traut. Er geht davon aus, dass du überall von uns herumerzählen wirst, wenn du uns erst einmal verlassen hast. Nicht dass irgendjemand dir glauben würde. >Chateau der Vampire<«, sagte sie mit transsilvanischem Akzent.
    Carol musste kichern.
    »André ist der Ansicht, je weniger du weißt, desto besser. Die Welt wird schon nicht gleich untergehen, wenn ich dir ein paar Ölgemälde zeige.«
    »Wie hast du eigentlich Karl kennengelernt?«
    Gerlinde lächelte ihr schiefes Lächeln. »Er war ein Beatnik, das hat er mir anfangs jedenfalls erzählt. Ich hatte meine eigene Bude. Oh, Carol, es war einfach toll! Alles in Rot und Schwarz, die Wände und die paar Möbelstücke, die ich hatte. Aus einer Tür hatte ich mir einen Tisch gemacht - die Klinke war immer noch dran -, und die Wände waren mit allen möglichen Kunstwerken tapeziert - meinen eigenen und mit den Gemälden und Zeichnungen von Freunden. - Mann, habe ich diese Wohnung geliebt!«, rief sie voller Begeisterung aus.
    »Na ja, eines Nachts bin ich im Anderen Ende Karl begegnet. Mir fiel sofort auf, dass er nichts trank - weder ein Bier noch sonst was. Dafür konnte er ganz toll reden. Er schrieb an einem Buch, der Schöpfungsgeschichte aus der Sicht der ersten einzelligen Lebensform. Natürlich änderte sich die Geschichte ständig, weil der Einzeller sich immer weiter teilte. Er erzählte mir, er müsse fasten, um den Kontakt zur mikroskopischen Welt nicht zu verlieren. Er war ein Intellektueller, Existentialist, und schwärmte für Gide und Kafka und Camus und von diesem Franzosen, Alfred Jarry, der Le Surmâle geschrieben hat,  Der Super-Mann, und interessierte sich für etwas, das er Pataphysique  nannte. Ich habe nie so richtig begriffen, worum es dabei überhaupt geht - es hat wohl etwas mit dem zu tun, was existiert, aber nicht mit der Art und Weise, wie es dazu kam. Ich hielt Karl für ziemlich klug und ein bisschen überdreht. Und im Bett war er eine Wucht, es machte Spaß mit ihm,

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