Kind der Nacht
Mühe bereitet, erwachsen zu werden, dann lässt er es an mir aus.«
Chloe tätschelte Carols Hand, ehe sie sie losließ und aufstand. »Ich habe den Wagen gehört. Ich koche dir einen Fencheltee und lasse ihn dir nachher hochbringen. Das wird deinem Magen gut tun, bevor du dich hinlegst. Und, Carol, mach dir nicht allzu viele Sorgen. Das bringt dir nichts.«
»Meinst du mir oder dem Baby?«
»Ich meine, dir und André und dem Wunder, das ihr zustande gebracht habt.«
Etwa eine Minute später hörte Carol den Wagen in die Kiesauffahrt einbiegen. Der Motor verstummte. Eine Tür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Carol fragte sich, woher es wohl kam, dass Chloe ein so gutes Gehör hatte.
»Was ist das?«, wollte André wissen, kaum dass er eingetreten war.
»Ein Kristall. Jeanette hat ihn mir geschickt. Er soll mir bei der Entbindung helfen. Und bei anderen Dingen auch. Der Einschluss da ist ein Phantom.«
Er hielt das Stück Quarz vor die Lampe. »Sieht aus wie ein Fötus.« Damit gab er ihr den Stein zurück.
Carol verwahrte ihn in der gold- und silberverzierten Ebenholz- Schachtel, schloss den Deckel und band die Bänder sorgfältig wieder zu. Als sie aufblickte, sah sie, dass André sie beobachtete. Seine rauchgrauen Augen waren ernst und unergründlich. Er streckte die Hand nach ihr aus und sagte leise: »Komm mit nach oben!«
13
Als der fünfte Monat anbrach, war Carols Bauch angeschwollen, ihre Brüste ebenfalls, und ihre Brustwarzen waren
immerzu wund. Je dicker sie wurde, desto stärker wuchs der Druck auf ihre Nieren, und sie verspürte ständigen Harndrang, was sich mitunter als lästig erwies. Ihr war zwar nicht mehr dauernd übel, dennoch war- sie oft müde und reizbar und ihr Gefühlsleben im Großen und Ganzen recht instabil. Aber trotzdem blühte sie auf. Ihre Wangen waren meist rosig, ihre Augen voller Glanz, und sie wirkte irgendwie entspannter. Sie wusste, dass sie kein Mädchen mehr war, sondern eine richtige Frau.
Eines Abends im September, als die Luftfeuchtigkeit nicht mehr so hoch war, was Carol geradezu als Geschenk des Himmels empfand, fuhr sie mit Gerlinde nach Bordeaux, um sich den Spätfilm anzusehen. Sie nahmen den offenen grünen Mercedes. Gerlinde saß am Steuer, und der Wind zerzauste ihr kurz geschnittenes rotes Haar. Sie trug ein ärmelloses helles chartreusegrünes Minikleid und sah einfach umwerfend aus, eine richtige Wucht, wie sie selbst es genannt hätte. Carol lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze. Sie fühlte sich gut, wirklich gut.
»Weißt du, Schätzchen, ich beneide dich«, sagte Gerlinde unvermittelt.
»Mich? Wegen des Kindes?«
»Ja. Ich meine, es ist eine Erfahrung, die ich niemals machen werde - ein Kind zur Welt zu bringen.«
»Willst du denn eins?«
»Na ja, ich werde ja deins haben.«
Carol setzte sich kerzengerade auf. »Was soll das heißen?«
Gerlinde warf ihr einen flüchtigen Blick zu. »Hm, wenn du gehst, weißt du! Dann werden wir das Kind alle gemeinsam aufziehen. Ich nehme an, ich werde wohl so etwas wie seine Mutter sein.«
Carol verspürte ein leichtes Entsetzen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, obwohl es ihr natürlich die ganze Zeit über klar gewesen war, dass sie das Kind aufgeben würde. Bis zu diesem Augenblick hatte sie sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. Sie sagte sich, sie sei lediglich sentimental. Wie konnte sie denn irgendeine Beziehung zu diesem Kind haben? Doch was Gerlinde gesagt hatte, nagte an ihr.
»Hey, Schätzchen, soll ich dir ein paar Anekdoten aus meinem unmoralischen Leben als Sterbliche erzählen?«
»Na klar«, erwiderte Carol. Sie musste lachen. Dieses Mädchen sah jünger aus als sie. »Erzähl mir alles über die wilden Fünfzigeijahre.«
»Na ja, so wild waren sie auch wieder nicht, wenigstens so lange nicht, bis ich hep wurde. Kennst du diesen Ausdruck?«
»Du meinst hip? Das stammt aus den Sechzigern, nicht wahr? Die Beatles, die Stones, Hippies, habe ich Recht?«
»Nein, auf keinen Fall! Ich rede von hep. Das Wort geht auf die Zwanziger- und Dreißigerjahre zurück und hat mit den schwarzen Jazz-Musikern in Chicago zu tun. Du solltest André mal danach fragen. Er hat diese Ära geliebt. Aber das Heute gefällt ihm natürlich auch ganz gut.«
Dies war eines der wenigen Dinge, die Carol über Andrés Vergangenheit erfuhr. Wenn er über sich sprach, dann nur über sein gegenwärtiges Leben. Die anderen wichen ihren Fragen
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