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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kilpatrick
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ob Tage oder Wochen vergingen.
    Eines Abends tauchte Jeanette vor ihr auf. Besorgt blickte sie auf Carol hinab. »Sie zeigt keinerlei Reaktion«, sagte Chloe.
    »Ja, das sehe ich. Ich bin froh, dass ihr mich gerufen habt. Wie lange ist sie schon so?«
    »Ungefähr einen Monat.«
    »Und was sagt der Arzt?«
    »Schock und Depression«, antwortete Gerlinde. »Außerdem hätte sie beinahe eine Fehlgeburt gehabt - einen ganzen Tag lang hat sie geblutet, aber jetzt geht er davon aus, dass zumindest das wieder in Ordnung ist.«
    Carol blickte in die über ihr schwebenden Gesichter der drei Frauen. Ihre Worte schienen nichts mit ihr zu tun zu haben. Was sie sagten, klang sogar komisch, und sie war versucht zu lachen, doch dann schwand der Drang dazu, und sie schloss die .Augen.
    In dieser Nacht redete Jeanette immer wieder mit ihr, aber Carol verspürte nicht den Wunsch, ihr zu antworten. Gegen Morgen hörte sie Jeanette sagen: »Hör zu, ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Aber du hast Recht. Sie könnte das Kind verlieren. Ich werde Julien anrufen - er ist daheim in Österreich bei Claude und Susan - und ihn bitten, herzukommen. Ich glaube, er könnte vielleicht mehr wissen als wir anderen. Außerdem werde ich mich besser fühlen, wenn er hier ist.«
    Am Abend darauf kam der große streng aussehende Mann namens Julien in ihr Zimmer. Er trat ans Bett und blickte Carol lange an, ohne ein Wort zu sagen. Seine Pupillen waren riesengroß, dunkel, hart und kalt, zwei schwarze Gruben, die ins Vergessen führten, und Carol konnte es kaum ertragen, hineinzublicken. Ihre Lider wurden schwer, und sie musste sie schließen. Von Zeit zu Zeit schlug sie sie wieder auf. Er war immer noch da.
    Später hörte sie eine Stimme - sie wusste nicht, wem sie gehörte - sagen: »Holt André her.« Angst durchfuhr sie, als habe jemand einen Schalter umgelegt.
    Auf einmal hörte sie viele Stimmen, Geflüster, Gemurmel, ein Zischen wie von Schlangen, die sich durchs Gras wanden, von Würmern, die über Leichen krochen. Dann zusammenhanglose Worte: »bestrafen«, »Schlampe«, »Verrat«, »aussaugen«, »Baby«, und immer wieder das Wort »Liebe«; aber sie wusste nicht, wer was sagte, und es hatte ohnehin keine Bedeutung für sie. Irgendjemand redete von  Hypnose. Jemand anders, Chloe, wie Carol annahm, sagte: »Der  Widerstand ist zu stark.«
    Sie machte Juliens und Andrés Stimme aus, und hin und wieder hörte sie Karl. Sie sprachen Französisch.
    Widerstrebend ergriff jemand ihre schlaff herabhängende Hand. Sie hielt die Augen geschlossen. Es bestand keine Notwendigkeit, sie zu öffnen. Wer auch immer es war, er saß neben ihr auf dem Bett. Berührte ihr Gesicht. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass es André war. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen, setzte zwischendurch sogar aus, ihr Atem ging flach und stoßweise. Angst durchflutete sie, das erste wirkliche Gefühl seit Langem.
    Die anderen waren immer noch da, sie konnte sie geradezu spüren, dennoch war die Stille nahezu greifbar. Er sagte nichts, hielt nur ihre Hand und streichelte sie, stundenlang, wie es ihr vorkam, während ihr Herz raste, an die Grenze seiner Belastbarkeit getrieben wurde und sie in die ewige Dunkelheit zu stürzen drohte.
    Als der Morgen dämmerte, hob er sie hoch und trug sie nach unten. Sie wandten sich nach links, gingen anscheinend durchs Esszimmer in die Küche, wo sie sich gelegentlich Tee gekocht hatte, und stiegen eine weitere Treppe hinab. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, traute sich jedoch nicht, die Augen zu öffnen, um es herauszufinden.
    Es war kühl hier unten, und sie hatte den Eindruck, dass es dunkel war. Sie hörte einen Schlüssel klirren und wie ein Kombinationsschloss, von der Art, wie man sie an Tresoren findet, gedreht wurde. Quietschend öffnete sich eine Tür.
    Er legte sie hin und breitete eine Steppdecke über sie, dann kettete er ihre Hand an etwas Hölzernes, eine Querstange in Höhe ihres Kopfes.
    Sie spürte, wie er sich neben sie legte und an sie drückte. Sie wollte schreien und von ihm wegrücken, war vor Angst jedoch wie gelähmt. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie bekam kaum noch Luft.
    Als sie später endlich den Mut fand, die Augen zu öffnen-, fand sie sich in völliger Dunkelheit wieder. Die Luft, die ihr Gesicht streifte, war kühl, aber nicht kalt. Die Decke hielt sie warm. Sie spürte noch immer seinen Körper gegen den ihren, aber etwas war anders.

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