Kind der Nacht
sie gefangen gehalten worden. Dessen war sie sich hundertprozentig sicher.
Nachdem sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie wieder klar denken konnte, trat sie behutsam aufs Gaspedal und ließ den Wagen im Schritttempo weiterrollen. Vor dem Haus parkten keine Fahrzeuge, aber die Tore der riesigen Garage waren geschlossen. Sie musste vorsichtig sein.
Carol zitterte am ganzen Körper. Ich sollte jetzt zurückfahren, sagte sie sich. Hierher sollte ich nicht allein kommen. Es könnte gefährlich werden. Ich weiß ja nicht, mit wem ich es zu tun habe. Aber sie war schon zu weit gegangen und hatte zu viel durchgemacht, um jetzt noch den Rückzug anzutreten.
Sie ließ die Wagenschlüssel bei laufendem Motor stecken und die Tür offen, nur für den Fall, dass sie schnell wieder von hier verschwinden musste. Sie klopfte an die Eingangstür. Niemand kam.
Sie ging an eins der nach vorn gelegenen Fenster des dreigeschossigen Anwesens und spähte hinein. Ein leeres Zimmer. Als sie ums Erdgeschoss herumging und durch die Fenster, die allesamt ohne Gardine waren, in die leeren Zimmer blickte, in denen keinerlei Möbel standen, erkannte sie den Grundriss des Hauses wieder - die Anlage der Zimmer, Türen und Kamine. Die Garage stand ebenfalls leer. Das Chateau war verlassen.
Wieder am Haus, versuchte sie, ein Fenster einzuschlagen. Bei den äußeren, getönten Scheiben ging es leicht, aber die Innenverglasung der Doppelfenster war anscheinend bruchsicher. Sowohl die Vorder- als auch die Hintertür waren fest verriegelt. Nachdem sie es eine Stunde lang versucht hatte, begriff sie, dass sie es so nicht schaffen würde.
Carol fuhr zurück nach Bordeaux und schaute bei einem Immobilien makler vorbei. Eine Angestellte sah im Computer nach. Das Haus war seit etwas über sieben Jahren nicht mehr bewohnt, stand jedoch nicht zum Verkauf. Es gehörte nicht einem einzelnen Besitzer, sondern einer Körperschaft, einem Unternehmen mit Sitz in der Schweiz, und wurde von einer örtlichen Immobiliengesellschaft verwaltet.
Carol warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Heute war es bereits zu spät, um dort noch anzurufen, und es blieb, berücksichtigte man ihren Abflugtermin, auch keine Zeit, den legalen Weg einzuschlagen. Also hielt sie an einem Baumarkt und erledigte dort ein paar Einkäufe.
Früh am nächsten Morgen kehrte sie zurück zu dem Haus in Soulac- sur-Mer. Sie gelangte hinein, indem sie so lange am Fensterrahmen kratzte, bis der Kitt sich löste. Es war ein Kinderspiel, beinahe so, als täte sie dies nicht zum ersten Mal. Die Scheibe ließ sich nicht ein drücken, aber nach stundenlangen Mühen gelang es ihr, sie aus dem Rahmen zu brechen.
Selbst der Geruch im Innern des Hauses kam ihr vertraut vor. Sie erkundete das Erdgeschoss. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie die Möbel in diesem Zimmer gestanden hatten, und sie erinnerte sich an eine große Skulptur auf einem Beistelltischchen, ein auf einem Delfin reitendes Mädchen. Der ganze Raum schien angefüllt mit Erinnerun gen, die alle zugleich auf sie einstürmten. Als Erstes stieg sie in die dritte Etage hinauf und beschloss, sich von dort in den Keller hinab zuarbeiten; denn der Gedanke, ins Untergeschoss, ins Dunkle, zu gehen, flößte ihr Angst ein.
Im dritten Stock gab es nichts, was ihr bekannt vorkam. Vielleicht war sie ja doch nie hier gewesen! Das verwirrte sie, zumal das Wohn zimmer unten alle möglichen Bilder in ihr aufsteigen ließ. Im zweiten Stock war es dasselbe. Nichts. Zumindest beinahe! Die gleichen Türen führten in die gleichen nichts sagenden Räume - anscheinend hatte sie sie, ebenso wie ein Stockwerk höher, niemals betreten. Das änderte sich, als sie ins letzte Zimmer kam.
Als Carol eintrat, war es, als bräche ein Damm, und bislang verdrä ngte Erinnerungen überfielen sie völlig unvorbereitet. Sie sank zu B oden, ihr Atem ging viel zu schnell. Vergessene Eindrücke stürzten au f sie ein; das Feuer im Kamin; das Fenster, aus dem sie so oft geschaut hatte; das Bett, dort hatte es gestanden, sie hatte darin geschlafen und wach gelegen und war daran angekettet gewesen. Mit einem Mal tat ihr alles weh. Sie wand sich in Krämpfen, und ein lautes Stöhnen entrang sich ihren bebenden Lippen.
Sie erinnerte sich ganz deutlich an alle: an Chloe, Gerlinde, Karl, Jeanette und Julien mit ihren Kindern. An ihr Kind. Das winzige, verletzliche Baby mit den dunklen Haarbüscheln und der
Weitere Kostenlose Bücher