Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
jemand, nur ein kleines Stück vor ihm.
Wieder wirbelt er den Speichel im Mund herum. Die Gestalt ist etwa zehn Meter von ihm entfernt, Einzelheiten kann er nicht ausmachen. Nicht groß, nicht klein. Wenig mehr als der vage Umriss eines menschlichen Wesens vor der Silhouette des Gebüschs.
Aber die Gestalt sieht ihn an. Und steht ganz still.
Auch Kramer rührt sich einen Augenblick lang nicht, beide stehen reglos da.
Dann dreht sich die Gestalt um, geht los, wendet sich zur Seite und verschwindet hinter dem Busch.
Kramer bleibt stehen, bis er Sekunden später spürt, wie ihn die Erleichterung durchströmt. Fast muss er über sich lachen. Es war nur jemand, der dasselbe machte, wie er – die Abkürzung über die Brache nehmen, mit dem Unterschied, dass er von der anderen Seite kam. Der Typ sah Kramer, erstarrte und beschloss, dass es wohl besser war, umzukehren und einen anderen Weg zu nehmen.
Offensichtlich erweckt er den Eindruck, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen ist. Oder besser noch! Als sollte man ihm besser nicht im Dunkeln begegnen. Genau das wird der Typ vermutlich gerade über ihn gedacht haben.
Irritiert schüttelt Kramer den Kopf und setzt seinen Weg fort. Auch wenn eigentlich gar nichts passiert ist, hat ihm diese Begegnung eine ordentliche Portion Adrenalin ins Blut geschossen, das seine Wirkung schon zeigt, bevor er es eigentlich braucht. Er fühlt sich jetzt unbezwingbar, aber das ist …
Wieder bleibt er stehen.
Dort steht noch jemand, etwas versteckt hinter dem Busch, dort, wo der Fremde war. Kramer sieht in der Dunkelheit eine Zigarette rot aufglimmen.
Zwei Männer, die sich hier draußen treffen? Es wird eine Erklärung dafür geben. Nicht dass sie ihn auch nur im Geringsten interessiert, aber fürchten muss er sie auch nicht. Einfach vorbeigehen – er geht los – und den Mann nicht beachten …
Aber es ist keine Zigarette, wie er jetzt bemerkt. Das Leuchten der Glut verändert sich nicht.
Als er sich der Stelle nähert, späht Kramer ins Gebüsch und sieht die Diode klein und rot zwischen den Blättern leuchten. Dann das schwarze Rund einer Linse. Eine Kamera, die auf die Büsche auf der anderen Seite des Weges gerichtet ist.
Er dreht sich um.
Erkennt eine kleine Lücke. Kurz, sehr kurz nur, gibt es die Gelegenheit, die Frau dort auf dem Rücken liegen zu sehen und festzustellen, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Zu bemerken, dass sie viel zu still daliegt und ihr Gesicht nicht dort ist, wo es sein sollte.
Aber es bleibt ihm nicht die Zeit, alles Gesehene in seinem Kopf zusammenzufügen und sich klar darüber zu werden, was sich dort zugetragen hat. Denn in diesem Augenblick vernimmt er das schnelle, regelmäßige Aufsetzen von Füßen im Kies hinter sich und das peitschende, an Flügelschlag erinnernde Geräusch von Plastik, das durch die Nachtluft zischt.
Dann – nichts.
Dritter Tag
12
D er nächste Morgen fühlte sich kälter an als normal, obwohl die Sonne genauso hell und warm am Himmel stand wie vor zwei Tagen, als ich die Mulberry Avenue entlanggefahren war und Carla Gibsons Schreien lauschte.
Hier auf der Brache schrie niemand. Mir war, als befände ich mich in einem akustischen Vakuum oder vielleicht auch im Auge eines Orkans. Das Gelände und die Straßen des Garth-Komplexes in der Umgebung hatten wir großräumig abgesperrt – ohne einen triftigen Grund kam niemand rein oder raus –, und so herrschte hier Stille, die nur von dem kaum hörbaren, geschäftigen Wirken der Leute von der Spurensuche unterbrochen wurde, die durch das Gebüsch wieselten. Aber auch die vage Ahnung einer eisigen Präsenz stellte sich ein, von etwas, das die Luft erkalten ließ, indem es das wärmende Licht der Sonne einfach daran hinderte, auf den Boden zu gelangen.
Natürlich war das lächerlich.
Trotzdem fühlte es sich so an.
»Unser Mann«, sagte Laura.
»Ja.«
Wir standen am Ende eines der vielen Pfade, die sich kreuz und quer über das karge Gelände wanden. Auf der einen Seite befand sich eine winzige Lichtung, an drei Seiten von dornigen Büschen umgeben und gerade groß genug für die drei Leichen, die wir nebeneinander liegend gefunden hatten. Sie waren dort abgelegt worden, als würden sie Seite an Seite friedlich schlafen. Friedlich konnten sie allerdings nicht gestorben sein: Ihr Mörder musste sie aus irgendeinem Grund so angeordnet haben.
Ich blickte mich um, über die Büsche hinweg. Zelte waren noch nicht aufgestellt worden, was in dem Dickicht vermutlich auch
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