Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
Schulter und lehnt sich an ihn. Sie sind beide sehr klein und halten einander im Dunkeln umarmt.
Der Polizist hört seiner Geschichte aufmerksam zu, und obwohl das Gesicht des Jungen keinerlei emotionale Regung zeigt – kein Anzeichen von Aufrichtigkeit oder Täuschung –, spürt er, dass alles wahr ist. Nachdem er beide Jungen kennengelernt und auch das Haus gesehen hat, kann er sich ausmalen, wie sie dort eng beieinandersitzen, sich ein Bild von der Trostlosigkeit und der Angst machen.
»Und wann ist das passiert?«, fragt er.
Der Junge antwortet lange nicht. Aber dann besinnt er sich. Und wieder ist da dieser Ausdruck in seinem Gesicht. Etwas, das älter zu sein scheint als das Kind.
»Und was ist dann passiert?«
Der Junge beginnt zu erzählen.
Das ist, rückblickend betrachtet, der Punkt, an dem der Polizist überzeugt sein wird, dass nun die Lügen beginnen.
Sechster Tag
17
D avid Barrett fegt seinen Hof.
Vielen Menschen mag das als eine alltägliche, eher lästige Verrichtung erscheinen – bei ihm ist das anders. Hinter ihm, im strahlenden Sonnenschein, liegt die Farm, die er über die Jahre aufgebaut hat. Es begann mit einem kleinen Einfamilienhäuschen mit ein wenig unbestelltem Acker und Ödland drum herum. Schon damals war es ziemlich teuer, aber es war immer sein Traum gewesen, eine kleine Farm sein Eigen zu nennen. Und diese hier war perfekt. In den zehn Jahren, seit Kate und er eingezogen sind, hat er das Haus in Eigenarbeit auf einer Seite ausgebaut und das dazu gehörende Land mit Hingabe kultiviert. Sie haben Hühner und Schafe, bauen Getreide an und sind zum größten Teil Selbstversorger.
Und es ist wundervoll.
Der Besen gibt ein beruhigendes Geräusch von sich, während er den Staub vom Haus in geordneten Bahnen auf die ruhige Straße vor dem Grundstück kehrt, wo er sich zu einer Wolke auftürmt, um sich anschließend in der lauen Luft in kleine, tanzende Wirbel aufzulösen. Das Schrubben des Besens ist das einzige Geräusch, ansonsten herrscht Stille.
Und dann –
»Mama!«
Er blickt auf und sieht, wie Robin mit fliegenden Armen und Beinen über das Feld jenseits der Straße angerannt kommt. Für David gleicht es eher einem kontrollierten Sturz als einem Lauf. Sein Sohn ist ein wahres Bündel an Energie, und oft droht sie mit ihm durchzugehen. Er ist noch dabei, die Grenzen seines kleinen Körpers zu entdecken und immer aufs Neue auszutesten.
»Robin«, ruft er ihm zu. »Pass auf.«
»Mama!«
»Mama ist bei der Arbeit.«
Robin rennt weiter. Wie die Flügel eines Windrads wirbeln Arme und Beine um ihn herum.
»Mama!«
Einen Moment lang ist sich David nicht einmal sicher, ob Robin wirklich Kate meint. Beim Laufen- und Sprechenlernen hat sich der Kleine immer schwergetan. Zwar hat er beim Laufen inzwischen aufgeholt, ist aber, was die Sprache angeht, noch immer nicht auf dem Stand eines Dreijährigen. ›Mama‹ war das erste Wort, das er sagen konnte, und daran klammert er sich seitdem. Eine Zeitlang war alles ›Mama‹, vom Bücherregal bis zu den Hühnern, und auch heute noch ist es immer das erste Wort, das er herausbringt, wenn er aufgeregt ist. David hält das für ganz normal. Und auch Kate stört es natürlich nicht.
»Pass auf.«
Er ruft nicht laut genug, der Wind trägt seine Worte fort. Robin ist sowieso schon über das halbe Feld gelaufen, ohne die geringsten Anstalten zu machen, langsamer zu werden oder sich vorzusehen.
David stellt den Besen weg und geht, die Hände in den Taschen, seinem Sohn entgegen. Etwa hundert Meter weiter trifft das Feld auf eine Biegung der Straße, die er gerade überquert. Dort stehen Büsche, und hinter der Straße folgt ein weiteres Feld. Gefährlich ist es hier nicht – dazu ist es viel zu ruhig. Verkehr gibt es kaum. Robin spielt dort oft, aber er will ihn trotzdem immer gern im Blick behalten.
»Robin«, ruft er.
»Mama!«
Das Wort, so schwach wie der Kleine selbst, weht dahin. Wie weiße Jonglierbälle sieht David die Sohlen der winzigen Turnschuhe zwischen den vereinzelten Grasbüscheln hin und her hüpfen.
Er ist nicht mehr weit von den Büschen entfernt.
David geht schneller.
»Robin«, ruft er, »komm zurück!«
Falls der Junge ihn hört, lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken. Doch jetzt hört David noch etwas anderes. Das Knattern eines Motorrollers, ein durchgehendes unterdrücktes Brummen, das allmählich lauter wird.
Vielleicht hat das Kind hellseherische Fähigkeiten, denkt er, denn Kate ist endlich
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