Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
gegangen ist – dass dieser fast, wenn auch nicht ganz, wiederauferstehen kann. Er ist nicht anwesend, und trotzdem fällt es einem nicht schwer, sich vorzustellen, dass er wieder da ist. Als würde nicht seine Gegenwart, sondern seine Abwesenheit einen Schatten werfen, gerade lebendig genug, um das Lebewohl zu hören, das ihm alle mit auf den Weg geben.
Natürlich ist das Unsinn – nichts als eine Illusion. Wenn Menschen tot sind, sind sie tot. Und das Leben der anderen setzt seinen unberechenbaren Lauf fort. Niemand außer uns schenkt dem Beachtung. Niemand anderes bemerkt das oder hält es fest.
Der Trauerredner blickte über die Ränder seiner Brille und lächelte freundlich in den Saal. Es war derselbe Blick, den er Carla Gibson geschenkt hatte, als wäre unser Verlust mit ihrem zu vergleichen. Als er seine Ansprache begann, sprach er zu der Versammlung wie zu Freunden.
»Sehr geehrte Damen und Herren«, fing er an. »Vielen Dank, dass Sie sich zu diesem Anlass, einem der denkbar traurigsten, hier eingefunden haben.«
Einem denkbar traurigen Anlass.
Das zu bewerten ist immer schwierig, aber das Begräbnis von Derek Evans war um einiges schlimmer. Vicki Gibson wurde auf ihrem letzten Weg wenigstens von ihrer Familie und Freunden begleitet. Evans hatte nur mich und Laura, die mitgekommen war. Von den »Freunden«, die Evans unter der Stadt gewonnen hatte, war niemand gekommen, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Und nur wir zwei vermochten nicht die Geister, Schatten oder dergleichen wachzurufen.
»Asche zu Asche, Staub zu Staub.«
Laura und ich standen neben dem Geistlichen am Grab und sahen zu, wie Evans’ billiger Sarg in das Erdloch hinabgelassen wurde, das kaum Platz genug bot.
Als der Priester die belanglose Zeremonie beendet hatte, sah ich mich um. Der Friedhof war übersichtlich und weitläufig, das flache Terrain nur von ein paar vereinzelten Bäumen und Grabsteinen unterbrochen – allerdings nicht hier, wo die von öffentlichen Geldern bezahlten Sozialgräber mit nichts weiter geschmückt waren als einem Holzkreuz und einem Namensschild darauf. Im Umkreis von fünfzig Metern war niemand zu sehen. Keine Zuschauer. Trotz der Hitze des Tages fühlte sich die Brise, die über das Gras und die Steine zog, eher kalt an.
Nachdem die Andacht beendet und der Sarg in den Boden hinabgelassen worden war, entfernten sich Laura und ich von dem Grab.
»Er ist nicht erschienen«, sagte ich.
»Du hast nicht im Ernst erwartet, dass er das tut.«
Ich zuckte mit den Schultern. Erwartet nicht, vielleicht aber gehofft. Serienkiller hatten das schließlich schon oft getan. Es ging darum, die Karten noch einmal neu zu mischen: Statistiken und Wahrscheinlichkeiten zu prüfen. Hatten wir im Augenblick eine andere Wahl?
Drei Tage lag der letzte Mord im Garth-Komplex inzwischen zurück. Seitdem hatte es keine Vorkommnisse mehr gegeben. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte: erst eine regelrechte Mordwelle, dann der angebliche Brief, dann Schweigen. Das alles hatte nichts gemein mit dem, was in den Lehrbüchern stand. Serienkiller neigen dazu aufzudrehen. Amokläufer machen weiter. Irgendeinen Grund musste es geben, warum sich unser Mörder zurückzog, aber ich kam nicht drauf. War das geplant, vielleicht Teil seines angeblich nicht zu knackenden Codes, oder gab es eine andere Erklärung?
»Woran denkst du, Hicks?«
Wir machten einen kleinen Spaziergang. Ich trat nach dem Kies, der auf dem Weg lag.
»Ich frage mich, wann wir wieder von ihm hören.«
»Du meinst einen Brief?«
»Nein, das meine ich nicht. Er hat nicht aufgehört zu morden. Das würde keinen Sinn ergeben.«
»Es sei denn, er wurde aus irgendeinem Grund davon abgehalten. «
»Wodurch zum Beispiel?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht wurde er ja von einem Lastwagen überfahren.«
»Mit so viel Glück dürfen wir wohl kaum rechnen.«
»Im Moment scheint mir, wir könnten eine Menge davon gebrauchen.«
Ich nickte. Harte Arbeit allein brachte uns im Augenblick wohl nicht weiter. Wenigstens erlaubte uns die Pause zwischen den Morden, ein wenig zur Besinnung zu kommen und die Opfer, die es bisher gegeben hatte, gründlicher unter die Lupe zu nehmen. Selbst wenn man seinen Brief nicht für bare Münze nahm, musste jeder möglichen Verbindung zwischen den Opfern, jedem möglichen Motiv nachgegangen werden.
Sandra Peacock, die Arbeiterin, das erste Opfer auf dem Brachland, war dreißig und alleinerziehende Mutter von zwei kleinen
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