Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
Mutter hatte sich entschieden, die Wünsche ihrer Tochter über ihre eigenen zu stellen.
Die zweite Überraschung war die Anzahl der Trauergäste.
Es war ein ruhiger, warmer Vormittag. Der Kies knirschte leise unter meinen Schuhen, als ich zwischen den üppigen, tadellos gestutzten grünen Hecken entlangging, die die Zufahrt säumten. Bestattungsinstitute, selbst die konfessionsfreien, scheinen großen Wert darauf zu legen, eine Vision von Himmel, Frieden und Ruhe herbeizuzitieren. Draußen vor der Kapelle hatte sich schon vor der Trauerfeier eine Menschenmenge eingefunden.
Ich sah mir die Trauergemeinde mit Verwunderung an. Von außen mag das Leben anderer seltsam erscheinen, und man sollte sich nicht zu voreiligen Schlüssen hinreißen lassen. Vicki Gibson war nie die isolierte Außenseiterin gewesen, für die ich sie aufgrund ihrer Armut und ihrer Lebensumstände gehalten hatte.
Ich schlenderte ein wenig umher und ging dabei bewusst den Polizisten aus dem Weg, die sich diskret im Hintergrund aufhielten. Nicht selten tauchten Serienmörder auf den Begräbnissen ihrer Opfer auf oder beobachteten sie aus der Ferne. Und mangels brauchbarer Ermittlungsergebnisse hatte die Beisetzung höchste Priorität für uns.
Niemand aus dieser Gruppe stach besonders hervor.
Ein paar Stammkunden aus dem Waschsalon: zwei Frauen und ein älterer Herr. Vickis Kollegen aus beiden Jobs waren gekommen und hatten zwei größere Gruppen gebildet. Ihre Verwandtschaft war angereist. Zahlreiche Freunde aus der Gemeinde waren gekommen, alle in dunkler, festlicher Kleidung, je nach Geldbeutel. Jeder schien jemanden zu kennen. Niemand erweckte den Eindruck, allein hier zu sein.
Kurz darauf fuhr der Leichenwagen heran, und unter den Gästen wurde es still, als hätte sich ein Tuch über sie gelegt.
Mit dem Sarg auf den Schultern gingen sechs bestellte Träger gemessenen Schrittes in die Kapelle. Ihnen folgten nacheinander die Trauergäste. Ein paar Polizisten mischten sich unter die Menge, die meisten jedoch blieben im Hintergrund.
Ich folgte als Letzter.
Die Kapelle erwies sich als großer Saal unter einem Spitzdach, was mich groteskerweise an ein Ferienhaus erinnerte. Die versiegelten Holzdielen, blitzsaubere weiße Wände und kleine hohe Fenster mit dicken, dunklen Holzrahmen. Streifen schräg einfallenden Sonnenlichts erfüllten den Raum über uns.
Ein paar Plätze waren noch frei. Ich entschied mich für einen in den hinteren Reihen.
Der Sarg war auf Rollen vor zugezogenen roten Samtvorhängen am hinteren Ende des Saals aufgestellt. Daneben stand der Trauerredner, ein alter Herr in altmodischer Garderobe, auf einem kleinen Podest. Seine Brille und die Augenbrauen verliehen ihm etwas von einer kleinen Eule: belesen und schlau. Immer wieder sah er auf, geduldig und ernst, und wartete darauf, dass die Trauergemeinde zur Ruhe kam und die Gespräche einstellte. Gelegentlich schenkte er der ersten Reihe ein Lächeln. Durch das Meer dunkler Anzüge hindurch machte ich Carla Gibsons Hinterkopf aus, der sich unter der aufgebauschten schwarzen Spitze ihres Hutes verlor.
Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Sarg.
Unausgesprochen war er der Mittelpunkt des Saales: der Geist inmitten einer Menge, den zwar jeder spüren kann, den aber niemand wahrhaben will. Und darin Vicki Gibson, so wie sie jetzt war. Die attraktive, arbeitsame junge Frau, die all diese Menschen miteinander verband, vergangen zu einem Nichts.
Aus naheliegenden Gründen war der Sarg geschlossen, aber beim Anblick eines toten Körpers ist nichts so eindeutig wie die Erkenntnis, dass dieser Mensch gegangen ist. Die Abwesenheit ist nicht zu leugnen und wird sogar noch greifbarer, weil das Etwas vor einem wie ein menschliches Wesen aussieht, offenkundig aber keines mehr ist. Ein toter menschlicher Körper ist ein grauenvoller Anblick, der einen für einen Moment ebenso still und schweigend zurücklässt, wie dieser selbst es ist.
Ist man aber über diesen Gedanken hinaus, dann folgt in der Regel zumindest die Gewissheit, dass wir sind, was wir sind: ein komplexes biologisches Getriebe, das seine Arbeit eingestellt hat oder angehalten wurde. Im Gegensatz zu manchen meiner Kollegen bei der Polizei hatte ich als Atheist nie ein Problem am Tatort.
Bei Beerdigungen ist das allerdings etwas anderes. Mir scheint, dass, wenn sich all die Menschen mit all ihren Gedanken und Erinnerungen zusammengefunden haben, das Wesen des Menschen wiederaufleben kann, der von ihnen
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