Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
der Mann über Funk schon Hilfe herbeigerufen. Dann hatte er den Wagen abgestellt und war zu Fuß die Böschung hinuntergeschlittert. Unten hatte er es irgendwie geschafft, Lewtschenko aus dem Führerhaus ans Ufer zu ziehen.
Lewtschenko war tot. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Der Sanitäter mühte sich ab, gab sich nicht geschlagen und warf sich unermüdlich immer wieder auf Lewtschenkos Brust, presste ihm stoßweise Wasser aus der Lunge, beatmete ihn, schlug ihm auf das Brustbein. Wieder und wieder. Mehr als sieben lange Minuten. Lewtschenko, tot, reagierte nicht.
Und dann doch.
So lange aber war er tot gewesen.
Mehr als an die Sekunden unmittelbar vor dem Unfall wünscht sich Lewtschenko die Erinnerung an diese verlorenen sieben Minuten zurück – um erkennen zu können, was, wenn überhaupt, sich in dieser Zeit ereignet hat. Er ist ein tief religiöser Mann, ist es immer gewesen, und diese Ungewissheit nagt an ihm. Nach all den Jahren hat er immer noch keine Antwort auf diese Frage gefunden. Kann es sein, dass er sich an diese Minuten des Totseins nur nicht mehr erinnert, weil es nichts zu erinnern gibt?
Schon allein aufgrund des Schicksals, das Emmy widerfahren ist, will er das nicht glauben.
Eine Stütze für seinen Glauben findet er in dem Gedanken daran, wie groß der Zufall war, dem er sein Überleben verdankt; dass sich auf einer Straße, auf der normalerweise nie viel los ist, der richtige Mann zufällig im richtigen Abstand hinter ihm befand. Sein Dasein verdankt er – im Guten wie im Schlechten – allein diesem Zusammentreffen. Und dieses Zusammentreffen wiederum beruht auf vielen anderen zuvor. So ist für ihn alles, was er hat, von unschätzbarem Wert. Jeder Augenblick nach dem Unfall – selbst der schlimmste – ist für ihn ein besonderes Geschenk, das er mit größter Dankbarkeit annimmt.
Dennoch hat die Sache eine Kehrseite: Er lebt mit geborgter Zeit.
Manchmal erfüllt ihn das Geschehene mit Glück, aber ein Teil in ihm fragt sich, ob hinter dem Uhrwerk des Universums mehr steckt als das. Ist man gläubig, kann man im Unwahrscheinlichen Fragmente eines größeren Plans erkennen, eines Plans, der zu Gott gehört und sich einem, wenn überhaupt, nur Stück für Stück erschließt.
Also steht er vor einem spirituellen Dilemma. Er will an Gott glauben, schon allein um Emmys willen. Er will fest daran glauben, dass es auf einer anderen Daseinsebene eine junge Frau von vergänglicher Schönheit gibt, die lächelt. Er will glauben, dass Gott alle Bilder von ihr gleichzeitig sieht, in einer Art Daumenkino mit Bildern von einem bezaubernd lächelnden kleinen Mädchen, ebenso aber mit denen von einer herzlich lachenden jungen Frau, will glauben, dass Er sie an einen besseren Ort gebracht hat, an dem sie immer noch lacht und lächelt. Als Teil Seines Plans. Im Himmel den Duft des honigsüßen Parfüms verströmend, das sie immer trug.
Aber wenn das stimmt, was ist mit Lewtschenko?
Warum darf er sein Leben weiterführen?
Wenn sein Überleben Teil eines geheimen Plans ist, hat sich dieser ihm nie offenbart. Abgesehen von dem bescheidenen Glück, das er in die glimmende Asche seines Lebens mit Jasmina gefächelt hat, nachdem ihnen Emmy entrissen wurde, hat er nichts Besonderes zustande gebracht. Gott hätte ihn sein Leben doch gewiss nicht weiterführen lassen, nur um ihn die Höllenqual durchleiden zu lassen, seine Tochter sterben zu sehen?
Nein. Es muss noch etwas anderes geben.
Er dreht sich um und lagert den Kopf auf dem Unterarm. Jasmina schnarcht sanft neben ihm – ein anheimelndes, trostreiches Bündel unter der Decke.
Wie dumm, so etwas zu denken. Wenn Gott einen Plan hat, dann liegt die Preisgabe von dessen Zweck – oder auch das Verschweigen desselben – allein in Seiner Hand. Wenn es etwas gibt, was er verstehen soll, dann wird die Zeit kommen.
Langsam übermannt ihn der Schlaf, breitet eine nebelhafte Decke über seine verworrenen Phantasien und legt sich sanft über seinen Geist.
Er blinzelt kurz mit den Augenlidern, als er sich dem Schlaf ergibt.
Das Letzte, was er sieht, bevor er in die Traumwelt hinübergleitet, ist der Nachttisch. Das Foto von Emmy. Und daneben die angestaubte Kerze, deren Blüten mit der Zeit brüchig und stumpf geworden sind. Sie ist lila, blau und rot – aber er weiß, dass Tränen und noch vieles mehr ihrer wächsernen Zufälligkeit beigemischt sind, denn dies ist die Kerze, die er vor acht Jahren gegossen hat, in den dunklen Stunden,
Weitere Kostenlose Bücher