Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
nachdem seine Tochter umgebracht worden war.
Teil II
E s war spät. Schon nach Mitternacht, glaube ich.
Mit diesen Worten beginnt der Junge, seine Geschichte zu erzählen.
Er befindet sich in dem Schlafzimmer, das er sich mit seinem älteren Bruder teilt. Das schon winzig ist, wenn sich nur einer von ihnen darin aufhält. Sind beide da, ist der Raum nur noch aberwitzig klein. Nicht länger als das Stockbett und gerade zweimal so breit. Ihre Kleidung verstauen sie unter dem unteren Bett. Das einzige andere Möbelstück ist ein angeschlagenes Holzregal mit billigen Taschenbüchern und ein paar abgegriffenen Comics, die so eng hineingequetscht sind, dass sich das Papier zusammengeschoben hat und gerissen ist. Ein Fenster gibt es nicht.
Die Tür führt direkt auf den schummrigen Gang hinaus, der mitten durch das kleine Haus läuft. Sie ist geschlossen, wird aber plötzlich von einem Lichtschein umrahmt. Die Mutter hat sich schon vor Stunden schlafen gelegt. Ihr Vater kommt gerade nach Hause.
Der Junge hält im Dunkeln den Atem an, und er weiß, dass sein Bruder, der in dem Bett über ihm liegt, dasselbe tut.
Zusammen, aber allein, warten sie.
Der Junge hat gelernt, seine Umgebung bei Vorkommnissen wie diesem nach den Geräuschen zu beurteilen. Pfeift sein Vater, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit alles in Ordnung. Murmelt er halblaut irgendetwas vor sich hin, hat ihn im Pub vermutlich jemand geärgert: jemand, der größer ist als er und mit dem er sich besser nicht anlegt, so dass er jetzt jemanden sucht, mit dem er das kann.
Der kleine Junge weiß, dass sein Vater ein Rohling ist, wie die Kinder in der Schule. Als er ihm erzählte, dass er schikaniert wurde, versuchte ihm sein Vater das Boxen beizubringen. Er ging mit ihm vors Haus und brüllte ihn fortwährend an, die Hände hochzuhalten, während er auf ihn einschlug.
Er hört ein Poltern vom Flur her, ein Stolpern und einen dumpfen Schlag gegen die Wand. Andere Geräusche gibt sein Vater heute Abend nicht von sich, und das Herz des Jungen schlägt, als hocke ein zu Tode verängstigter Vogel in seiner Brust. Das ist immer das Schlimmste. Es bedeutet, dass sein Vater sehr betrunken ist, dass sich die Verbitterung, die in ihm wohnt, den Weg nach draußen bahnt. Immer wenn er volltrunken gegen die Wand kippt, ist er felsenfest davon überzeugt, von jemandem angerempelt worden zu sein. Wenn sein Vater so betrunken ist, dann fühlt sich für ihn alles wie ein Rempler an. Alles ist gegen ihn.
Der Junge hasst ihn.
Ein Schatten huscht unten an der Tür vorbei.
Pause.
Der Junge, der den Atem schon anhält, schafft es, den drängenden Atemreflex noch weiter zurückzudrängen.
Bum, bum, bum.
Die Faust seines Vaters gegen die Tür.
Aus dem Flur dringt ein Lachen zu ihm, dann huscht der Schatten vorbei. Er hört, wie sein Vater am anderen Ende des Flurs wieder mit der Schulter gegen die Wand kippt oder, wie er es formulieren würde, die Wand gegen ihn.
Der Junge liegt eine Weile im Dunkeln, während er ihn sich vorstellt. Ja, er ist Vater, aber nie Papa. Er kann sich nicht erinnern, ihn jemals umarmt zu haben. Kann ihn sich nicht einmal lächelnd vorstellen. Sein Gesicht ist ein hässliches Etwas: rot und verwittert, wie das eines Trolls in einem der Märchenbücher im Regal. Er hat braunes, gelocktes Haar, trägt unförmige, von alten Farbklecksen übersäte Pullover und braune Cordhosen und ist von kleiner, in sich zusammengefallener Statur. Einzig stark an ihm sind die Unterarme und die Knöchel, wie die eines Affen. Alle Fehlschläge und Enttäuschungen seines Lebens treten hier offen zutage.
Am anderen Ende des Hauses fällt die Schlafzimmertür laut ins Schloss.
Dort möchte der Junge liegen, kann es aber nicht. Im Dunkeln setzt er sich auf, stellt die bloßen Füße auf den Teppich und verkrallt die Zehen in das stachelige Gewebe. Und als der Lärm beginnt – das andere Schlagen, die laute Stimme seines Vaters, die erstickten Rufe und das Weinen seiner Mutter –, presst der kleine Junge sich die Fäuste auf die Augen und schaukelt vor und zurück, auf nichts sonst konzentriert als auf das Gefühl seiner Füße.
Leise beginnt er zu weinen, wie er es über all die Jahre gelernt hat, versucht, nicht zu tief einzuatmen, um das Schluchzen durch die verschwollene Nase zu unterdrücken.
Nach einer Weile bemerkt er, dass sein älterer Bruder neben ihm sitzt. Er hat nicht bemerkt, wie er die rote Leiter hinabgestiegen ist. John legt ihm die Arme um die
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