Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
Enwrights Gehabe.
Lewtschenko zieht noch mehr Seidenpapier von der Rolle, die er immer auf dem Tresen stehen hat, drapiert es behutsam um die Kerze herum, gerade so dicht, wie er sich traut. Dann schließt er den Deckel.
»Darf ich fragen …?«, sagt er.
»Ja«, erwidert Enwright mit einem strahlenden Lächeln. »Die Antwort war Ja.«
Lewtschenko erwidert das Lächeln – obwohl er natürlich bezweifelt, dass der Mann jetzt hier wäre, wenn die Antwort Nein gewesen wäre. Wie Enwright es bei der Bestellung gewünscht hatte, hat er handschriftlich die genaue Uhrzeit und das Datum, an dem die Kerze entstanden ist, auf dem Deckel der Schachtel vermerkt. Beide Angaben decken sich mit dem Augenblick, als Enwright seiner Freundin zwei Nächte zuvor einen Heiratsantrag machte.
Ob das Paar die Kerze jemals entzünden wird, vermag Lewtschenko nicht zu sagen. Es interessiert ihn auch nicht. Nur wenige Menschen passen so perfekt zueinander wie er und Jasmina. Daher ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Zeit und das Leben die Kerze für sie herunterbrennen lassen. In mancher Hinsicht ist ein solches Verlobungsgeschenk eine Geisel des Schicksals.
Aber das, denkt er, trifft schließlich auf viele andere Dinge genauso zu.
So viele Dinge.
»Ich freue mich für Sie beide«, sagt er, während er die Gedanken an seine Tochter beiseiteschiebt.
»Danke.«
»Ich freue mich wirklich sehr für Sie und wünsche Ihnen alles Gute, Mr. Enwright. Wirklich, alles Gute Ihnen beiden.«
Dreißig Jahre waren es inzwischen her, seit er gestorben war.
Während er neben seiner Frau in ihrem kleinen, kargen Schlafzimmer liegt, erinnert er sich – jedenfalls so gut er kann, denn dreißig Jahre sind eine lange Zeit. Blickt man zurück in das Leben eines Mannes, dann ist das ein stattlicher Brocken, und zwar so sehr, dass es sich anfühlt, als habe sich sein Tod im Leben eines ganz anderen zugetragen. Er war damals zwanzig und in vielerlei Hinsicht ein ganz anderer Mensch, und die Erinnerung ist nur noch schleierhaft. Ihm ist im Gedächtnis, dass er Fahrer war und seine Arbeit darin bestand, Dinge aus der Stadt irgendwohin und von irgendwoher wieder zurück zu transportieren. Er entsinnt sich auch, dass er Überstunden gemacht, in der Kabine seines Lasters auf Parkplätzen geschlafen und Jasmina und Emmeline, seine kleine Tochter, viel zu wenig gesehen hat, und er weiß jetzt, dass er zu wenig Geld dafür bekam, um diese verlorene Zeit auszugleichen.
Jetzt blickt er manchmal zurück auf die Stadt, auf Menschen wie Edward Enwright und denkt, dass Geld der einzige Wert ist, der noch geblieben ist. Was bringt es?, fragen sie. Was haben sie davon? Fragen nach Nutzen und Wert verdienen mehr als materielle Antworten, sollten sich nicht nur am Geld bemessen. Als junger Mann jedoch verstand er das nicht, schuftete all diese Überstunden in dem Glauben, dass genau dies bedeutete, Verantwortung zu tragen, ein guter Ehemann und Vater zu sein und aus dem schlechten Blatt, das er damals in der Hand hielt, das Beste zu machen.
Eines Nachts verunglückte er mit seinem Lieferwagen.
Kein Mensch konnte sich erklären, wie das passieren konnte. An die Minuten vor dem Unfall konnte sich Lewtschenko nicht mehr erinnern, was aber, so sagte man ihm, nicht bedeutete, dass er am Steuer eingeschlafen war. Was ihm widerfuhr, war so einschneidend, dass der Verlust des Gedächtnisses auf jeden Fall zu erwarten war. Eine kleine Erinnerungslücke war tatsächlich noch der geringste bleibende Schaden, auf den man hoffen durfte.
Von dem Unfall ist ihm keine Erinnerung geblieben, einige Dinge aber gelten als nachweislich dokumentiert. Aus einem unerfindlichen Grund kam er gegen Mitternacht mit seinem Lieferwagen von der Umgehungsstraße ab, auf der um diese Zeit normalerweise nichts los war. Das Führerhaus sauste in rasendem Tempo die Böschung hinab, durchbrach eine Baumreihe, überschlug sich und blieb im Seitenarm des Kell einen Meter unterhalb der Wasseroberfläche auf der Fahrerseite liegen.
Lewtschenko war bewusstlos und blieb, durch den Sicherheitsgurt an dem Fahrersitz gefesselt, im eiskalten Wasser liegen.
Einem glücklichen Umstand verdankte er seine Rettung.
Der Zufall wollte es, dass kurz hinter ihm jemand die Straße entlanggefahren war und gesehen hatte, wie der Wagen ausbrach. Und der Zufall wollte es auch, dass der Fahrer dieses anderen Wagens Rettungssanitäter war. Und noch bevor das Führerhaus auf der Wasseroberfläche aufgeschlagen war, hatte
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