Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
wieder zurück. Er sieht den Roller in der Ferne um eine Straßenbiegung herantuckern. Der Rock weht im Wind und gibt den Blick auf ihre festen Waden frei. Das Haar und der Schal flattern hinter ihr her. Sie fährt schnell, aber besonnen vorsichtig die Kurve, hinter der sie zu den Büschen kommt, auf die Robin gerade zusteuert.
Sie blickt in seine Richtung, als sie dort vorbeifährt, und sieht, wie David ihr mit hoch über den Kopf erhobenem Arm einmal zuwinkt, um dann auf das andere Ende des Feldes zu deuten. Er will ihr signalisieren, dass sie von einem Empfangskomitee erwartet wird. Zögernd winkt sie zurück, scheint dann zu verstehen, sieht ihren Sohn auf dem Feld und bremst ab, um ihn abzupassen.
Doch so weit kommt sie nicht.
Zwanzig Meter weiter richtet sich jemand genau in dem Moment hinter den Büschen auf, als sie herankommt. David kann nicht sehen, was geschieht, aber das Geräusch dringt bis zu ihm – ein entsetzliches Geräusch, wie ihm sein Unterbewusstsein sagt –, wie ein Gewehrschuss, gefolgt von dem Kreischen von Metall. Er läuft schneller, während sein Gehirn langsam erfasst, dass der Roller auf der Seite liegt, die Straße entlangschlittert, direkt an seinem Sohn vorbei, der am Feldrand stehen geblieben ist.
»Kate!«, schreit er.
David rennt los.
Immer noch damit beschäftigt, die Bruchstücke dessen zusammenzufügen, was sich gerade ereignet hat. Sie hatte einen Unfall. Nein, hatte sie nicht. Da war der Mann. David kann ihn jetzt nicht sehen. Sein Gesichtsfeld tanzt vor ihm auf und ab, während er läuft, aber der Mann ist schon außer Sichtweite. Irgendwo dort, wo Kate verunglückt ist.
Ganz allmählich fügen sich die Fakten zusammen wie die Bilder zweier Linsen, die sich übereinanderschieben und die Wahrheit klar und deutlich zum Vorschein bringen. Der Mann hat sie vom Roller gestoßen.
»Robin!«, ruft er. »Komm zurück! Komm sofort her!«
Er sieht seinen Sohn, der ihm das kleine Gesicht zuwendet, nimmt die Verwirrung und den Schreck in dessen Blick wahr. Der Junge ist blass. Er hat es gesehen.
»Robin! Sofort zurück ins Haus!«
Da taucht der Mann wieder auf; wie ein Schatten erhebt er sich hinter dem Strauch. Ganz in Schwarz gekleidet mit einer Sturmhaube über dem Kopf. Er sieht David, so schnell dieser kann, auf sich zulaufen, hält den Blick eine Sekunde auf ihn gerichtet, wendet sich dann ab und macht eine Bewegung in Richtung Boden, als würde er auf eine Stelle einschlagen, die sich Davids Blick entzieht. Er hält etwas in der Hand. Was es ist, kann David nicht erkennen.
»Nein!«
Das Geräusch der Schläge dringt zu ihm. David läuft schneller, mit stampfenden Füßen über das Feld. Weder weiß er, wo Robin jetzt ist, noch interessiert es ihn. Denn ihn durchzuckt gerade etwas: ein stechender Schmerz, der eine dumpfe Ahnung hinterlässt. Der Mann schlägt Kate, wieder und wieder. Er weiß nicht, warum. Er weiß nur, dass er dort hinmuss, dass er nicht rechtzeitig dort sein wird, dass er hinter etwas her ist, das er nicht erreichen kann, etwas, das er schon verpasst hat.
Jetzt läuft der Mann zur Straße, zu dem umgefallenen Roller. Er trägt etwas. David wechselt die Richtung, will zu ihm – um sich durch das Gebüsch hindurch auf ihn zu stürzen und ihn zu Boden zu werfen. Aber er schätzt die Entfernung falsch ein: Der Mann entkommt ihm. Als David bei den Büschen ist, hat er den Roller schon aufgerichtet und tritt auf die Pedale, um ihn in Gang zu setzen. Die Dornen, die an ihm reißen, bemerkt David kaum, als er durch das Laubwerk bricht und auf den unvermutet harten Asphalt hinausstürzt, um nur noch der Abgaswolke des davonbrausenden Zweirades hinterherzusehen.
Er weiß sofort, dass er nicht den Hauch einer Chance hat, den Roller einzuholen. Gleich darauf fährt der Mann in einem Bogen direkt an Davids weißgetünchtem, sonnenbeschienenen Traum von einem Farmhaus vorbei.
Kate.
Er dreht sich langsam um. Zwanzig Meter vor ihm liegt sie einfach da. Ihr Kopf scheint in einer Benzinlache zu liegen, und obwohl er weiß, dass es kein Benzin ist, klammert er sich an diese Hoffnung, während er hinrennt.
Jedenfalls so lange, bis er bei ihr ist.
18
V icki Gibsons Beerdigung hielt ein paar Überraschungen für mich bereit. Die erste war, dass sie in einer konfessionsfreien Kapelle stattfand. Aus irgendeinem Grund hatte ich Carla Gibson für eine religiöse Frau gehalten, womit ich übrigens nicht einmal falschlag. Vicki selbst war es jedoch nicht, und ihre
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