Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
stecken, meist kracht er seitlich gegen den Stamm, aber ein paar präzise Schüsse gelingen ihm doch, so dass die Pfeilspitze allmählich stumpf wird.
Er hält inne, um ihn zu spitzen, hockt sich ins Gebüsch, das Herz rast in der kleinen Brust, das Blut pocht in seinen Ohren.
Und weiter geht’s, rennen, sich wieder ducken.
Immer tiefer in den Wald hinein.
Nach einer Weile erspäht er einen Vogelschwarm hoch über sich in den Ästen eines Baumes, die einzelnen Vögel kaum mehr als größere, dunklere Blätter inmitten des Grüns. Er bleibt stehen und zielt, schließt ein Auge und kostet den Augenblick aus, solange es geht. Er denkt sich Szenarien aus: dass er Nahrung in ein Lager zurückbringen, zum Überleben auf die Jagd gehen muss. Aber er weiß, dass es nicht so ist, und die Vögel sitzen so weit unten, dass sie trotz der miserablen Flugbahn verletzt werden könnten. Deshalb feuert er den Pfeil nicht ab, senkt den Bogen, hält die Sehne aber gespannt.
In dem Moment dringt ein Geräusch zu ihm.
Ein Geräusch, das ihm die Härchen auf den Armen aufstellt.
Zunächst glaubt er, ein wildes Tier zu hören, ein Tier in Not, denn es hört sich nicht entfernt nach einem Menschen an. Es ist ein vogelähnliches Krächzen. Nicht aber das eines Vogels, den er schon einmal gehört hätte, und im Moment ist es das einzige echte Geräusch im Wald. Nicht das übliche Vogelzwitschern. Selbst das Knacken des Unterholzes ist verebbt.
Das Geräusch kommt von vorn, von der anderen Seite eines mit Sträuchern bewachsenen Erdwalls.
Ein anderes Geräusch: ein Schlag, noch einer und noch einer. Das Krächzen reißt ab, um nach kurzer Stille von einem Rasseln und Gurgeln ersetzt zu werden, als würde jemand die Reste eines Milchshakes mit dem Strohhalm vom Glasboden saugen. Und dieses Geräusch hält an.
Billy hat plötzlich das Gefühl, sehr weit weg von der Zivilisation zu sein: dass er, wer oder was immer sich hinter der Erhebung befindet, mutterseelenallein ist. Er sieht sich um, fühlt sich hilflos. Wenn der Wald vorher sein bester Freund war, dann hat er ihn jetzt im Stich gelassen. All seine Sinne mahnen ihn, auf dem Absatz kehrtzumachen und wegzulaufen, zurück durch den riesigen Wald, den er hinter sich spürt.
Trotzdem robbt sich Billy langsam, ganz langsam den Erdwall hinauf. Er weiß, dass er das nicht tun sollte, aber er kann nicht zurück. Fühlt sich unbestimmt von irgendetwas angetrieben.
Als er sich den Sträuchern nähert, vergewissert er sich, dass der Faden noch in der Nut am Pfeilende ist. Ja, ist drin. Das macht ihm Mut. Er hat keine Angst, doch, schon, er hat Angst, aber er ist auch mutig. Dass er nicht geradeaus schießen kann, wird derjenige dort vorne, wer auch immer es sein mag, nicht wissen.
Als Billy bei den Sträuchern ankommt, wird das Gurgeln lauter, schriller und durchdringender.
Mit der Pfeilspitze schiebt er, so vorsichtig er nur kann, einen Zweig beiseite.
Da sind zwei Männer. Der eine liegt auf dem Rücken, nur ein paar Meter hinter dem Blattwerk. In seinem hellroten Gesicht brodeln die Überreste von Nase und Mund. Ein Arm zieht kraftlos eine bogenförmige Spur im Staub daneben, wie ein träger Schneeengel. Der zweite Mann trägt eine schwarze Sturmhaube, hockt sich über die Beine des ersten und stochert ihm ohne Eile mit einem Schraubenzieher im Bauch herum, als wollte er die Eingeweide langsam umrühren.
Billy stockt das Herz.
Dann setzt der Herzschlag wieder ein.
Wie angewurzelt liegt er da, unfähig, den Rückzug anzutreten. Traut sich nicht, sich zu rühren. Im Augenblick ist der Mann voll und ganz darauf konzentriert, das Opfer auf dem Boden zu foltern – ihm geradezu leidenschaftlich in den Gedärmen herumzustochern –, aber er könnte jeden Moment aufsehen.
Billy schluckt.
Zu laut.
Der Mann wendet plötzlich den Kopf, und ihre Blicke treffen sich.
Eine Sekunde lang ist der Wald vollständig erstarrt, Billy traut sich immer noch nicht, sich zu rühren. Aber dann erwacht plötzlich alles zum Leben. Mit einem Satz, als wären in einem Film ein paar Bilder herausgeschnitten worden, schnellt der Mann hoch. Und Billy feuert den Pfeil auf ihn ab, rappelt sich auf, wartet nicht mal ab, ob er getroffen hat, dreht sich um und rennt durch den riesigen leeren Wald zurück.
Um sein Leben.
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D efinitiv unser Fall«, sagte Laura.
»Phantastisch. Lass hören.«
Sie war gerade von der Besprechung bei der Polizei in Buxton zurück, nachdem sie bei der Obduktion von Kate Barrett
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