Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
sah Billy mich mit einem Schimmer von Hoffnung in seinem Blick an. Was ich gesagt hatte, stimmte. Ich konnte mich sehr gut daran erinnern, wie ich mich in seinem Alter gefühlt hatte: ungeschickt, hilflos und einsam. So etwas vergisst man nie. Man vergisst nie, wie sich das anfühlt. Als Kind ist es nie verkehrt, sich ein Spiel auszudenken, wo immer es geht …
Buxton.
Ich schob den Gedanken beiseite.
»Du warst also im Wald. Wo, das wissen wir. Wir kommen gerade von dort.« Fast wäre mir das Wort Tatort herausgerutscht, ich konnte es aber gerade noch zurückhalten. Wir würden sowieso bald darauf zu sprechen kommen. »Was ist dann passiert?«
Billy holte tief Luft. »Vor mir war ein furchtbares Geräusch. Ich wusste nicht, was das war, und bin hingegangen, um nachzusehen. Ich weiß, dass ich das nicht hätte tun sollen, aber ich hab’s trotzdem gemacht.«
»Und was hast du gesehen?«
Aufregung verzerrte sein Gesicht.
»Gut«, sagte ich schnell. »Wir wissen, was passiert ist. Du musst uns nicht in allen Einzelheiten beschreiben, was du gesehen hast. Es war sicher grauenvoll.«
Er nickte. Er weinte nicht, kämpfte aber gegen die Tränen an.
»Wie lang hast du zugesehen?«
»Weiß nicht«, sagte er. »Schwer zu sagen. Vielleicht … eine Minute?«
Du lieber Himmel. Da sich Augenblicke der Angst ewig hinziehen können, nahm ich an, dass es so lang gar nicht gewesen war. Aber trotzdem war es mit Sicherheit mehr als genug.
Das Opfer hatten wir bereits identifiziert: Paul Thatcher, 28 Jahre alt. In dem Waldstück trafen sich manchmal Leute mit ihren Motocrossrädern. Erkenntnisse darüber, ob ihn dieser Sport oder etwas anderes dorthin gezogen hatten, besaßen wir jedoch nicht. Ich hatte die Leiche gesehen und das, was der Täter angerichtet hatte, bin mir aber nicht sicher, ob ich die Tat länger als ein oder zwei Sekunden hätte mit ansehen können. Der Ärmste musste vor Schreck erstarrt sein. Mitten im tiefsten Wald und ohne zu wissen, ob er wegrennen, sich verstecken oder was er überhaupt machen sollte.
»Die nächste Frage ist etwas schwieriger«, sagte ich. »Hat der Mann noch gelebt, als du ihn gesehen hast? Ich meine den Mann am Boden.«
Wieder holte Billy tief Luft.
»Ich glaube, ja«, antwortete er. »Mehr oder weniger jedenfalls.«
Mehr oder weniger. Wenn man sich vor Augen hielt, was wir am Tatort bisher gefunden hatten – und das dürfte noch lange nicht alles gewesen sein –, ergab mehr oder weniger einen unheilvollen Sinn. Paul Thatcher war tot, als wir dort eintrafen, aber seine Verletzungen ließen darauf schließen, dass er vorher noch eine ganze Zeit mehr oder weniger am Leben gewesen sein musste. Billys Antwort war von Bedeutung, weil sie etwas verdeutlichte. Nämlich dass der Killer, obwohl er dabei beobachtet worden war, wie er Paul Thatcher folterte, nicht in Panik geraten, nicht geflüchtet und nicht mal dem Zeugen hinterhergerannt war.
Stattdessen hatte er sich in aller Ruhe wieder seiner Tätigkeit zugewandt.
»Kannst du ihn beschreiben? Also nicht den Mann am Boden. Den anderen.«
»Er war ganz in Schwarz gekleidet und hatte eine Maske auf.«
»Was für eine Maske?«
»So eine Art Sturmhaube. Wie die, die sie bei der Armee haben. Ganz schwarz. Nur die Augen sind frei.«
»Okay. Kannst du uns auch sagen, wie groß er war?«
»Nein. Er war … über ihn gebeugt, als er ihm im Bauch herumstocherte, oder was er da gemacht hat. Und als er sich aufrichtete … ich weiß es nicht.«
»Hat er dich gesehen?«
»Im allerersten Moment dachte ich, dass er mich nicht gesehen hat, aber dann hat er mir direkt in die Augen gestarrt.«
Selbst aus zweiter Hand bereitete mir seine Schilderung ein Frösteln. Keine Hilfe weit und breit, und der Junge hatte einem Mann direkt in die Augen gesehen, der nicht nur einen Menschen gefoltert und umgebracht hatte. Ein Ungeheuer mit einem Hammer, einem Schraubenzieher und weiß der Himmel was noch.
»Sein Blick war einfach … leer.«
»Leer?«
»Er erinnerte mich an … diese Geschichte. Die Kinder in der Schule. Die haben mir von jemandem erzählt, der eine Katze getötet hat. Ich konnte mir nicht vorstellen, wer so etwas fertigbringt. Aber als ich ihm in die Augen gesehen habe, war mir klar …«
» Solch ein Mann?«
Billy nickte.
»Und dann bist du weggelaufen?«
Er nickte wieder, zögerte aber, vielleicht, weil er befürchtete, nicht so mutig zu klingen, wie er natürlich erscheinen wollte.
»Mach dir keinen Kopf«, sagte ich.
Weitere Kostenlose Bücher