Kind des Bösen: Psychothriller (German Edition)
annehmen. Aber irgendwie tickte dieser Typ anders. Wenn ich nichts übersehen hatte, waren wir weit davon entfernt, ihn dingfest zu machen: Bis jetzt war er mit seinen Mordtaten davongekommen. Und dann diese kaum verhohlene Kampfansage in den Briefen. Tatsächlich schienen die Verbrechen zu dem zu passen, was er sagte – nämlich, dass er aus irgendeinem unerfindlichen Grund aufs Geratewohl Menschen umbrachte.
Vielleicht wollte ich auch einfach nur glauben, dass etwas dahinterstecken musste. Dass es einen Grund gab für das, was er tat.
Er spielt mit euch.
Wenn das stimmte, dann tat er das mit großem Erfolg.
»Okay«, sagte Garretty. »Fangen wir an.«
»Was Sie da zu sehen bekommen, ist nicht jedermanns Sache.«
Ich hielt es für angebracht, ihn zu warnen. Aber er zuckte nur mit den Schultern und klickte auf die Maus. »Ich geh ’ne Runde um den Block, wenn’s mir zu viel wird.«
Das Video tat sich in einem Fenster auf, das fast den ganzen Bildschirm ausfüllte. Ein Balken am unteren Rand zeigte die abgelaufene und die verbleibende Zeit an und verriet, dass die Datei etwas über sieben Minuten lang war.
»Handgeführt«, bemerkte Laura rasch.
Ich nickte. Schon zu Beginn des Films war zweifelsfrei erkennbar, dass die Kamera von jemandem gehalten wurde: Das Bild bewegte sich unruhig und ruckelnd über unscharfem Grund, ohne länger anzuhalten, so dass Einzelheiten kaum auszumachen waren. Aus den Lautsprechern drang das Knacken des Waldbodens unter den Füßen. Er lief einfach, irgendwo, und die Kamera baumelte an seiner Seite.
Dann brach das Geräusch ab, der Mann blieb stehen und hob die Kamera an.
Das Bild zeigte einen Mann, der inmitten von Gestrüpp und Gras auf dem Rücken am Boden lag. Kein Landstreicher. Er trug einen alten braunen Anzug über einem weißen Hemd, das hochgerutscht war und den Blick auf einen blassen Bauch preisgab, der sich unter seinem schweren Atmen hob und senkte. Dem Gesicht nach zu urteilen – die Augen hatte er geschlossen, der Mund bewegte sich lautlos –, war er desorientiert, ohne dass es Hinweise darauf gab, was ihm zugestoßen war. Das ergraute Haar lag strähnig und schweißverklebt auf seiner Stirn.
Die Kamera ging näher heran, hielt genau auf das Gesicht und schwenkte abrupt wieder weg. Dann wieder das bekannte Knistern des Unterholzes, während der Mann ein Stück zurückging.
Das Bild wurde wieder ruhiger, schwankte von einer Seite zur anderen, als würde die Kamera den Kopf schütteln. Schließlich kippte es abrupt nach vorn, so dass mit einem Mal der ganze Körper des Mannes aus der Nähe zu sehen war.
Laura sagte: »Er hat sie auf ein Stativ gesetzt.«
»Genau.«
»Erst eine kurze Einführung, um das Opfer vorzustellen. Dann wird die Kamera montiert, um die Hände frei zu haben.«
»Zumindest spricht viel dafür, dass er allein arbeitet«, sagte ich. Ich fühlte mich beschissen, war aber trotzdem um professionelle und abgeklärte Distanz bemüht. »Hätte er einen Komplizen, dann hätte der es für ihn filmen können – oder umgekehrt.«
»Ob er von den anderen auch Filme gemacht hat?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wo ist das?«
»Weiß ich auch nicht.«
Das Bild blieb stehen – das Opfer lag auf dem Rücken, der Bauch bewegte sich in Wellen, als würgte er, ohne sich tatsächlich zu übergeben.
»Ich glaube nicht, dass es das Waldgebiet ist, in dem Billy Martin ihm begegnet ist«, mutmaßte Laura. »Mit Sicherheit aber irgendwo auf dem Land.«
Ich nickte. »Vielleicht im Nordosten der Stadt? Da draußen gibt es eine Menge abgelegener Landstraßen. Hier und da ein Wald und dazwischen Gehölze. Kilometerweit.«
Laura schwieg.
Ich wusste, was sie dachte: Das Gebiet war riesig, und wir mussten es unbedingt eingrenzen. Denn das, was der Mann in dem Brief geschrieben hatte, stimmte: Der Mann am Boden war ein Opfer, von dem wir bisher noch nichts wussten.
Jetzt trat der Mörder ins Bild.
Da war er also. Er ging auf den Mann zu, der am Boden lag. Billy Martin hatte ihn gesehen und lebte. Ein paar andere – wir wussten nicht einmal, wie viele – hatten ihn ebenfalls gesehen und waren jetzt tot. Und irgendwo an unserer Fotowand hing ein unscharfes Bild von ihm vor dem Briefkasten. Aber das Bild hier war scharf genug.
Bis auf die weißen Turnschuhe war er ganz in Schwarz gekleidet: Jeans, Regenjacke, eine Sturmmütze aus Wolle. Skihandschuhe. Es war schwer zu sagen, wie groß er war. Mittelgroß vielleicht, durchschnittliche Statur. Nichts
Weitere Kostenlose Bücher