Kind des Grals
verwunderte Sung nicht. Es geschah nicht bewußt. Bewußt war ihm nur, daß der Adler immer noch auf ihn zuhielt, und er sich jetzt - jetzt! - zu Boden werfen mußte, wollte er nicht Bekanntschaft mit dem sanft gebogenen Schnabel oder den scharfen Krallen des Vogels machen!
Zitternd vor Aufregung stand Sung da, und noch während er zögerte, hatte der Adler ihn erreicht, mit seinen Flügeln gestreift, so daß er instinktiv die Augen zusammenkniff und den Schmerz erwartete, der gleich folgen mußte, in welcher Weise auch immer. Aber der Adler strich an ihm vorbei, und als Sung die Augen wieder öffnete, stand ein Mann vor ihm.
Ein fremder und fremdartig aussehender Mann!
Sung wollte aufschreien, doch der Blick des Mannes versiegelte seine Lippen.
»Es ist gleichgültig, wer ich bin, gleichgültig, woher ich komme«, sagte er, und jedes Wort schien von etwas getragen zu werden, was sich in Sungs Verstand festbeißen wollte, dort aber keinen Halt fand. »Wichtig ist nur, daß du schnell handelst und zurück in dein Dorf rennst, um die anderen zu warnen! Hör genau zu und sei überzeugend, wenn du meine Warnung weitergibst!«
Nach diesen einleitenden Worten erzählte der Fremde, dessen Aussehen Sung an die Indianer aus den Wildwestfilmen im Fernsehen erinnerte, daß sich eine gefährliche Räuberbande dem Dorf nä-herte. Brutale, gewissenlose Kerle, die auch vor Mord und Vergewaltigung nicht zurückschreckten!
Mit trommelndem Herzen hörte Sung zu. Noch immer spürte er das »Tragende« der Worte, die auf ihn einhagelten. Aber je länger der Fremde mit ihm plauderte, desto sicherer wurde er, daß er ihm einen Bären aufband. O ja, auch die Leute im Dorf liebten es, ihm Streiche zu spielen, als wäre er einfältig und hätte nicht alle Sinne beisammen.
»Wo ist der Adler?« fragte er, als der Fremde ihn fragte, ob er alles verstanden habe und so weitergeben könne.
»Ich bin der Adler«, erhielt er zur Antwort.
Sung drehte sich um und sah zum Dorf.
Mordgesellen, die hierher unterwegs waren und vor denen sie flüchten, gegen die sie keinesfalls die Helden spielen sollten? Das Dorf war voller wehrhafter Männer, und jeder hatte diese oder jene Waffe. Auch Gewehre. Nur komplette Narren hätten sich Chancen ausgerechnet. Oder eine Übermacht, wie Sung sie sich beim besten Willen nicht einmal vorstellen konnte.
Entschlossen, von dem Fremden Beweise für seine Behauptung zu verlangen, drehte er sich wieder zu ihm um.
Aber der Indianer war verschwunden. Nur in der Ferne glaubte Sung den Adler fliegen zu sehen, der dem Erscheinen des Warners vorausgegangen war.
Sung ging zur Schmiede zurück. Ein wenig war ihm, als würde er schweben. Als hätte die Begegnung doch irgendwie Eindruck in ihm hinterlassen.
Als Herr Hoo ihn erblickte, rief dieser barsch: »Verschwinde! Ich hab' heute keine Verwendung für dich! Du stehst du nur im Wege 'rum!«
Han, der bei ihm stand, grinste bösartig.
»Gibt es in unserer Gegend Räuber?« fragte Sung.
»Räuber?« Stirnrunzelnd sah der Schmied zu ihm herüber. »Na-türlich. Räuber gibt es überall. - Was soll die Frage? Halt uns hier von der Arbeit ab!«
»Da war ein Fremder, draußen auf der Wiese. Er sah aus wie eine Rothaut aus den Filmen, ihr wißt schon, die wir uns bei Herrn Tse vor dem Fernseher anschauen, wenn der Generator funktioniert .«
Der Schmied runzelte nicht mehr nur die Stirn, er legte das ganze Gesicht in mißmutige Falten. Han grinste noch breiter.
»Der Fremde«, fuhr Sung fort, »hat mir aufgetragen, das Dorf vor einer Bande zu warnen, die gleich hier eintreffen wird. Wir sollen alles stehen und liegen lassen und in die Berge flüchten. Nur so können wir unser Leben retten! Ich werde gleich heimgehen und alles Großvater sagen.«
Herr Hoo ließ den schweren Hammer, dessen Stiel er mit beiden Fäusten umschlossen hielt, auf das Eisen herabfahren, dessen kaltes Ende Han mit einer Zange festhielt. Funken stoben.
»Halt! Warte!«
»Ja ...?« Sung sah in das derbe, narbige Gesicht des Schmieds.
»Du kannst dich doch nütze machen! Lauf auf die Weide des alten Yang und bring mir seinen Schwarzen her. Der braucht neue Eisen!«
»Aber -«
»Danach kannst du immer noch das Dorf warnen. - Los, hau schon ab!«
Sung überlegte. Der Schmied nahm ihn nicht ernst. Und hatte wohl recht damit. Sung glaubte dem Fremden ja selbst nicht.
Der Gaul von Yang .
Übertrieben oft nickend, entfernte er sich vom Eingang der Schmiede. »Ja! Klar! Ich bin gleich zurück! Ich
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