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Kind des Grals

Kind des Grals

Titel: Kind des Grals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vampira VA
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Leute tuschelten, er säße im Gefängnis. Er hätte sich ein schweres Verbrechen zuschulden kommen lassen. Aber Sungs Mutter hatte ihren Kindern erzählt, der Ernährer sei gestorben.
    Es mußte wohl stimmen, denn Sungs Mutter fuhr nie mit dem wöchentlichen Bus in die Stadt, und das hätte sie gewiß getan, wenn der Mann, der Sungs Vater gewesen war, noch am Leben gewesen wäre.
    »Ich hab' alles erledigt«, antwortete Sung. »Großvater hat mich gelobt.«
    Sung lebte mit Mutter, Großvater und drei jüngeren Geschwistern - Mädchen! - in einem kleinen strohgedeckten Haus am Rande des Marktplatzes, wo auch der Dorfbrunnen lag. Sein Großvater war alt und kränklich. Er konnte die Familie beim Broterwerb nicht unterstützen. Und die paar Münzen, die Herr Hoo Sung in die Tasche steckte, wenn er - was selten genug vorkam - einigermaßen guter Laune war, rangen der Mutter nur ein bitteres Lächeln ab.
    Dabei betete Sung jeden Abend, daß sie Anlaß erhalten würde, stolz auf ihn zu sein. Sie sah so verhärmt, so verlebt aus, daß er bald einen Weg finden mußte, die Ernährerrolle zu übernehmen, sonst ...
    »Es stimmt«, erklang die Stimme des Großvaters aus dem offenen Fenster des Hauses. »Er ist ein guter Junge. Er hat sich Mühe gegeben. Sei nicht so streng. Laß ihn gehen!«
    Sungs Großmutter war im selben Jahr gestorben wie sein Vater. Im Winter davor hatte eine böse Erkältung sie ans Bett gefesselt, von der sie sich nur scheinbar wieder erholt hatte - doch nach einem anstrengenden Tag auf den Feldern hatte ein heftiger Rückschlag sie binnen Stunden dahingerafft.
    Die Familie hatte den Verlust gleich zweier Angehöriger erstaunlich gefaßt aufgenommen, vor allem Sung und seine Geschwister. Die Bindung zum Vater war nie sonderlich eng gewesen. Man hatte ihn selten zu Gesicht bekommen, und wenn, nie etwas über die Gedanken erfahren, die ihm im Kopf herumgingen. Morgens war er vor allen anderen aufgestanden und aus dem Haus gegangen, und abends meist erst heimgekehrt, wenn fast alle wieder schliefen.
    Sung dachte nicht oft an seinen Vater. Er hatte ja seinen Großvater.
    »Ja, ja, geh ruhig. Herr Hoo wird dir schon zeigen, ob er dich brauchen kann oder dich lieber grün und blau prügelt!«
    Das passierte ab und an. Doch Sung machte sich nichts daraus.
    »Aber vor dem Dunkelwerden bist du wieder daheim!«
    »Versprochen.«
    Sung trottete hinkend vom Haus weg. Dem Großvater hinter dem Fenster winkte er noch einmal zu. Dann hatte er nur noch Gedanken für das, was er in der Schmiede Neues sehen und erleben würde. Das Feuer in der Esse. Die Funken, die Herrn Hoo bei jedem Schlag wie kleine Sterne umtanzten. Tiere, die beruhigt werden mußten ...
    Kein Mensch im Dorf besaß ein Auto, geschweige denn einen Traktor oder andere nützliche Maschinen. Es gab nicht einmal Strom über ein Leitungsnetz, nur über den uralten Gemeindegenerator, der aber die meiste Zeit des Jahres kaputt war.
    In Sungs Welten - der äußeren wie der inneren, die für ihn gleichrangig existierten - war die Zeit stehengeblieben.
    Minuten später erreichte der Krüppel den Rand des Dorfes, wo die Schmiede zwischen schattigen Bäumen lag. Herr Hoos Stimme scholl ihm entgegen, als dieser seinen Gesellen wieder einmal wegen seiner Tölpelhaftigkeit zum Teufel wünschte.
    Sung kicherte leise. Es bereitete ihm ein Wohlgefühl, wenn Herr Hoo grob mit dem faulen Han umsprang.
    Sein Blick strich an der Schmiede vorbei in die Weite, die sich dahinter auftat und wo keine Häuser mehr standen. Nur Wiesen und Äcker bis zum Horizont ...
    Es dauerte eine Weile, bis Sung klar wurde, worum es sich bei dem pfeilschnellen Schatten handelte, der sich aus der Ferne näherte. Und als er es wußte, fing er an zu rennen. An der Schmiede vorbei über die frisch gemähte Wiese, auf der sich Heuhaufen türmten.
    Was für ein wunderschönes Exemplar, dachte er.
    Der Adler wurde immer größer. Er mußte auch Sung längst entdeckt haben, aber er wich nicht aus. Schnurgerade hielt er auf ihn zu!
    Atemlos blieb Sung stehen. In der Nähe graste ein Wasserbüffel, der verschreckt den Kopf hob und dann langsam in Richtung seines Stall trottete.
    Auch Sung überlegte, kehrtzumachen und zur Schmiede zu rennen, um Herrn Hoo auf den imposanten Greifvogel aufmerksam zu machen. Es war der größte, den Sung je gesehen hatte. Sein schwarzes Gefieder glänzte, als wäre es völlig durchnäßt. Im Nacken prangte ein weißer Fleck.
    Daß ihm selbst solche Details auffielen,

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