Kinder der Apokalypse
finden und sagt ihm, was los ist.«
Sie wusste, dass sie gerade ihr eigenes Todesurteil gefällt hatte, aber sie wusste auch, dass Sparrow sie nicht rechtzeitig würde in Sicherheit bringen können. Sparrow durfte von Glück reden, wenn es ihr gelang, mit Squirrel zu entkommen, und das war das Beste, worauf sie hoffen konnten.
»Sparrow!«, zischte sie, als das andere Mädchen nicht reagierte. Aber Sparrow starrte den Tausendfüßler an, die Hände um den Schlagstock geklammert, die Lippen fest zusammengedrückt. Owl erkannte plötzlich, was sie vorhatte. Nein! ,versuchte sie zu rufen, aber das Wort blieb ihr im Hals stecken.
Sparrow trat vor sie, ein Schild gegen das Ding, das näher kam, und hob den Stock.
* **
Als Sparrow fünf Jahre alt war, hörte sie schon von allen Sei ten, dass sie einmal wie ihre Mutter sein würde. Es war nicht nur das, was alle hofften, sie sprachen darüber auch, als wäre es unausweichlich und die Vollendung ihrer Verwandlung, die sie erwartete, wenn sie reif genug war. Körperlich stellte sie bereits eine Miniaturversion ihrer Mutter dar, hatte den gleichen schlaksigen Körper, schmale Hände, dickes strohblondes Haar, ein schiefes Grinsen und leidenschaftliche blaue Augen, deren Blicke einen an die Wand nageln konnten, wenn sie wütend war. Sie bewegte sich sogar schon wie ihre Mutter, eine Art Schlendern, das auf großes Selbstvertrauen schließen ließ und die Bereitschaft und den Willen zu handeln.
Es gefiel ihr selbst ebenfalls, so zu denken – die Tochter, die eines Tages ihre Mutter werden würde. Ihre Mutter war immerhin legendär. Ihre Mutter war eine wilde Kämpferin und schlaue Anführerin. Ein kleines Mädchen konnte sich nichts Besseres wünschen, als zu einem Ebenbild von ihr heranzuwachsen.
Aber ihre Mutter sprach nie von diesen Dingen. Sie schien keine dieser Erwartungen an sie zu haben – oder wenn doch, behielt sie es für sich. Ihre Mutter sagte ihr kein einziges Mal, dass Sparrow unbedingt in ihre Fußstapfen treten müsse. Sie forderte sie auf, sie selbst zu sein und ihren eigenen Weg in der Welt zu finden. Sie gab ihr die Fähigkeiten und die Ausbildung, um überleben zu können. Aber es war Sparrows Herz, das ihr sagen würde, wohin es für sie gehen sollte.
Sparrow war sich nicht sicher, ob sie das glaubte oder nicht. Aber sie wusste, dass sie ihre Mutter abgöttisch liebte. Ihren Vater kannte sie nicht; er war schon vor ihrer Geburt verschwunden, und niemand sprach je von ihm. Ihre Mutter war die wichtigste Person in ihrem Leben, und alles, was sie war oder hoffte zu sein, kam aus dieser Beziehung. Sie dachte nur selten an ihren Vater und nie mit mehr als flüchtigem Interesse. An ihre Mutter dachte sie die ganze Zeit.
Ihre Mutter hielt ihr Wort. Sie bildete Sparrow zum Kampf aus – um anzugreifen und sich zu verteidigen. Sie arbeitete mit ihr, bis Sparrow todmüde war, aber das Mädchen beschwerte sich nie. Sie war eine gute Schülerin und bewältigte schon bald die Übungen, die ihre Mutter ihr aufgab. Ihre Entschlossenheit ließ nicht nach. Sie war noch nicht groß genug, um wirklich viel ausrichten zu können, aber sie wusste, sie würde wachsen, und dann würde sie bereit sein. Sie trainierte jeden Tag, an dem ihre Mutter nicht unterwegs war, und übte an den anderen Tagen allein. Sie war entschlossen, die Beste zu werden; sie wollte ihre Mutter stolz machen.
Sie lebten in den Bergen, hoch oben an den Hängen in einem befestigten Lager, das ihre Mutter Jahre zuvor eingerichtet hatte, noch vor Sparrows Geburt. Von dort aus führte ihre Mutter Überfälle auf die Sklavenlager und die Sklavenjäger durch, die alle terrorisierten. Die meisten Dörfer der Umgebung waren klein und schlecht befestigt – leichte Beute für die Verrückten. Die größeren Lager, die sicheren, befanden sich in den Städten, viele Kilometer entfernt. Ihre Mutter traute ihnen nicht. Sie glaubte an Freiheit und Unabhängigkeit, an Tempo und Beweglichkeit. Ihr Lager befand sich auf einem Felssims, das nur durch eine Anzahl schmaler Pfade zugänglich war, die niemand außer ihren Anhängern kannte und die leicht verteidigt werden konnten. Der Sims befand sich an einer Steilwand, und dahinter zog sich dichter Wald die unzugänglichen Berghänge hinauf. Es war ein guter Platz; sie waren hier lange sicher gewesen.
Aber wie es nach der Apokalypse so oft geschah, stieß der Erfolg von Sparrows Mutter auf Ablehnung, und Ablehnung wurde zu Verrat. Schließlich erfuhren mehr und
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