Kinder der Dunkelheit
mögen.“
„Da bin ich mir sicher.“ Mit Entsetzen sah Sabine, dass die große Fähre sich anschickte, am Hafen anzulegen. Den Lärm, den das große Schiff machte, würde sie wohl kaum erklären können. „Luca, mein Akku ist fast alle, ich lade ihn besser rasch auf. Ich gebe dann Angel Bescheid, ja? Lassen wir ihn aber jetzt noch etwas schlafen.“
„Schlaues Mädchen. Ich liebe dich und kann es kaum erwarten, dich endlich wieder bei mir zu haben.“
„Ich liebe dich auch. Bis bald.“ Um ein Haar hätte sie in das Telefon geschluchzt. Seine Stimme zu hören, wirbelte ihre kompletten Gefühle voll und ganz durcheinander. Bei dem letzten Satz hatte sie nicht gelogen, sie liebte ihn, doch das änderte nichts daran, dass sie so nicht mit ihm leben konnte. Sie schaltete das Telefon aus und steckte es in die Innentasche ihrer Jeansjacke. Gut, dass sie an die Sonnenbrille gedacht hatte, denn schon wieder liefen die Tränen.
Während sie sich umsah, um sich zu orientieren, griff sie sich ihre Reisetasche und warf sie sich über die Schulter. Heute würde sie nicht mit dem Zug fahren, der Frühzug nach München war schon um neun gegangen, der war weg. Der nächste kam immer erst gegen Abend, das war zu gefährlich. Angel würde sie finden, da war sie sich sicher. Um das nicht zu riskieren, musste sie V enedig verlassen haben, ehe die Sonne unterging, folglich musste sie auf dem schnellsten Weg zum Flughafen.
Heute hatte sie nicht den üblichen Luxus, kein Wagen wartete auf sie, der sie zur Abflughalle fuhr, kein Chauffeur, der ihr G epäck schleppte, tja, ab sofort musste sie wieder Abstriche machen. Soweit ihr Erinnerungsvermögen noch funktionierte, waren die Taxen vor dem Bahnhof, also musste sie einfach nur das Bahnhofsgebäude durchqueren.
Das war leichter gesagt als getan, der Bahnhof von Venedig glich um diese Uhrzeit einem Bienenstock. Sabine fühlte sich fatal an den Münchner Hauptbahnhof erinnert. Mühsam bahnte sie sich einen Weg durch das proppenvolle Gebäude. Erleichtert atmete sie auf, als endlich das Schild mit den diversen Anzeigen in ihr Sichtfeld kam. Ja, sie hatte sich nicht geirrt, dort war der Taxistand, dem Himmel sei Dank, diesen Trubel konnte sie heute gar nicht gebrauchen, also nichts wie weg. Bis auf zwei sahen die Taxen alle gleich aus, aber das beachtete Sabine erst gar nicht. In knapp einer Stunde ging eine Maschine nach München, so viel wusste sie noch, also galt es, das nächstbeste Taxi zu bekommen und sich dann zu sputen. Eines startete sofort den Motor und kam ihr entgegen, sehr aufmerksam von dem Fahrer, wahrscheinlich hatte er ihre schwere Reisetasche gesehen. Eilig fasste sie nach dem Griff der Autotür und warf ihre Tasche auf den Rücksitz. Während sie sich weiter in den Wagen schob, um auch noch Platz auf der Rückbank zu finden, wurde sie unsanft in den Wagen geschubst. Was war das denn für ein Rüpel? Ärgerlich wandte sie sich um und blickte in ein ausdrucksloses Gesicht, das sich hinter einer großen, verspiegelten Sonnenbrille verbarg. „Guten Tag, Sigñora Sabine, ich werde Sie ein Stück begleiten.“ In der nächsten Sekunde lag sie auf dem Rücksitz und der Fremde saß neben ihr. Der Fahrer fuhr in halsbrecherischem Tempo los und ehe sie noch schreien konnte, fühlte sie einen Stich am Oberarm und wieder einmal versank ihre Welt in absoluter Schwärze.
34.
„Hallo! Hört mich eigentlich jemand oder macht es keinen Sinn, etwas zu sagen?“ Samira fühlte sich endlich wieder soweit klar im Kopf, dass sie sich zutraute, einen vernünftigen Satz über die Lippen zu bekommen. Die Dunkelheit in ihrem Gefängnis war so stark, dass selbst sie mit ihren wahrlich guten Augen nur vage Schemen wahrzunehmen vermochte. Soweit sie es auch nur annähernd richtig erkannte, waren in dem Raum noch andere außer ihr, nur wer? Vorhin hatte sie sich eingebildet, ein leises Weinen gehört zu haben, doch das war jetzt verstummt. Es war vollkommen leise, bis auf das gleichmäßige Stampfen eines Motors.
„Ja, ich kann dich hören.“ Die Stimme war so leise und ve rschreckt, dass bei Samira sofort der mütterliche Instinkt durchbrach.
„Hab keine Angst, wer bist du denn? Hast du eine Ahnung wo wir hier sind?“
„Ich heiße Audrey und ich habe keinen blassen Schimmer, wo wir sind.“ Samira war wie elektrisiert, vor allem, da sie deutlich den französischen Akzent heraus gehört hatte. „Sekunde, sagtest du Audrey? Audrey Vezelay?“
Zuerst war da nur Schweigen,
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