Kinder der Dunkelheit
Blick ins Nirgendwo gerichtet. So sehr er auch versuchte, sich auf das Rauschen der Wellen zu konzentrieren, wenn sie sich am Strand brachen, die Flutwellen in seinem Kopf waren stärker. Vor ungefähr einer Stunde – kurz nachdem er fast wieder im Vollbesitz seiner Kräfte erwacht war – hatte Vittorio ihn beiseitegenommen. Mohammed ahnte, dass es nichts Gutes sein würde, was der Mann ihm zu sagen hatte. Doch was er dann zu hören bekommen hatte, war fast mehr, als er verkraften konnte. Ana war tot. Seine Ana, die mit ihrem Lächeln Eisberge zum Schmelzen hatte bringen können, war tot.
Sie hatte ihr Leben weggeworfen, weil sie glaubte, er sei ebe nfalls durch die Hand Don Ricardos gestorben, des Mörders der ganzen Familie. So behutsam wie möglich hatte Vittorio ihm die schreckliche Geschichte erzählt und doch war er fast zusammengebrochen. Er hatte Raffaele und Vittorio um Verständnis dafür gebeten, dass er erst einmal allein sein und mit dem fertigwerden wollte, was geschehen war. Raffaele hatte ihm wortlos einige Kleidungsstücke gebracht, da seine eigenen nur noch blutgetränkte Fetzen gewesen waren und ihn seine Retter während der Heilung nur in eine leichte Tunika gehüllt hatten. Nun stand er hier am Wasser, starrte auf einen Horizont, den zu sehen er nicht in der Lage war, und suchte in seinem Innersten verzweifelt nach den Tränen, die er um seine große Liebe weinen wollte – doch in ihm war nichts als Leere.
Raffaele betrachtete Mohammed mit großer Sorge. Er hätte es ihm so gern leichter gemacht, doch der Schmerz, den er jetzt durchleiden musste, gehörte zum Heilungsprozess wie die Wiederherstellung seines Körpers. Er musste die Tatsachen erkennen und akzeptieren, was geschehen war, daraus seine Schlüsse ziehen und seine Entscheidungen treffen. Vittorio kam aus der Höhle und setzte sich neben Raffaele in den langsam erkaltenden Sand. Auch sein Blick wanderte zum Ufer und dem jungen Mann, der in den letzten Tagen all das, was sein Leben ausmachte, verloren hatte. Keiner der beiden sprach ein Wort, doch das war auch nicht nötig, denn sie wussten beide, was der andere dachte. Also saßen sie schweigend da und warteten, bis Mohammed sich wieder so weit gefasst hätte, dass er zu ihnen zurückkam. Es dauerte lange, bis dieser mit schweren Schritten endlich wieder zu ihnen stieß. Er setzte sich und sagte lange Zeit kein Wort, bis es letztendlich aus ihm herausbrach.
„ Dieser Sohn einer Hündin muss sterben! Ich muss und vor allem, ich will meine Familie rächen, ich muss Ana rächen – er darf nicht ungestraft weiterleben, nachdem er so viele unschuldige Leben auf dem Gewissen hat! Er soll leiden, genau so, wie meine Mutter, mein Vater und meine Geschwister gelitten haben. Er soll das Entsetzen fühlen, das sie empfunden haben und er soll die endlose Hilflosigkeit und die grenzenlose Trauer spüren, die Ana ganz sicher kurz vor ihrem Tod erfüllte.“
Als Mohammed nach diesen Worten den Kopf hob, um Vittorio und Raffaele anzusehen, konnten beide die Flamme des Hasses sehen, die in ihm brannte. Nach seiner Verwandlung war er blasser als zuvor und so funkelten die schwarzen Augen nun noch bedrohlicher als sie es einst getan hätten. Wenn er erwartet hatte, dass einer seiner Retter ihn zurückhalten würde, so hatte er sich getäuscht. Beide lächelten ihn zustimmend, ja fast zufrieden an.
„Gut so, lass deinem ganzen Zorn und deiner Trauer Raum, lass dich hineinfallen, aber du musst deine Gefühle selbst kontrollieren. Du musst mit deiner Kraft umgehen können, sonst könnte es sein, dass Don Ricardo die ersten Sekunden nicht überlebt – das wäre ein zu gnädiger Tod für diesen Mann.“
Mohammed starrte die beiden verwundert an, erst nach einer kleinen Weile begriff er. Sie würden gar nicht versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen! Im Gegenteil, sie unterstützten ihn. Was aber meinten sie mit dieser Kraft? Sicher ging es ihm wieder gut, er war auch nie ein Schwächling gewesen, andere rseits, so kurz nach seinem Beinahetod …
„Was meint Ihr mit Kraft? Es geht mir zwar wieder ganz gut, aber besondere Kräfte kann ich nicht spüren.“
Vittorios Lächeln erschien ihm fast schon ein wenig väterlich, als dieser jetzt aufstand. „Komm, mein Junge, und stell dich zu mir! Es wird Zeit, dich mit ein paar Dingen zu konfrontieren, die dich zukünftig begleiten werden.“ Er reichte ihm die Hand und zog ihn mit einem einzigen Ruck auf die Beine. „Mein Freund Raffaele hat dir
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