Kinder der Dunkelheit
Grund, weiterzuleben. Sie wartete, bis der Don das Haus verlassen hatte und auch ihre Eltern sich zurückgezogen hatten. Dann verließ sie ihr Heim eben durch jene kleine Pforte, an der man Mohammed aufgelauert hatte. Sie holte sich ein Pferd und ritt hinunter zur Küste. Das Mädchen dachte sogar noch daran, dem Pferd die Zügel abzunehmen und es zurückzuschicken. Sie stürzte sich von den Klippen unterhalb Granadas ins Meer. Ich hatte bis zuletzt darauf gehofft, sie vielleicht doch lebend zu retten und ihr noch helfen zu können, denn man fand bei der ersten Suche ihren Leichnam nicht. Daher habe ich gestern Nacht zusammen mit zwei anderen den ganzen Küstenstreifen abgesucht. Wir kamen leider zu spät. Fischer mit ihrem Boot entdeckten sie tot im Meer treibend. Man hat dann zuerst ihren Vater geholt. Als er seine Tochter sah, erlitt er einen Herzanfall. Im Gegensatz zu seinem Kind wird er aber weiterleben müssen, dieser habgierige Schwachkopf. Ana wird in den frühen Morgenstunden bereits im Familiengrab des Herzogs beigesetzt werden. Diese Neuigkeiten hätte ich Mohammed sehr gern erspart, das darfst du mir glauben.“
In Gedanken versunken, fachte Raffaele das Feuer neu an. „Ja, das glaube ich dir. Lass uns hoffen, dass der Schlaf ihm gut tut und er erholt und bei noch besserer Gesundheit erwacht. Denn spätestens nächste Nacht wird er all das erfahren und auch verkraften müssen. Ich hatte so sehr gehofft, dass wenigstens dieser Teil sich noch zum Guten wenden lässt. Schade, sehr schade. Aber sag, Vittorio, wer hat dir denn all das erzählt?“ Vittorios sorgenvolle Miene wich einem angedeuteten Lächeln. „Die kleine Netta hat mir alles erzählt. Das Kind war total verzweifelt und kurz davor, selbst über die Klippen zu springen, da sie glaubte, mit schuld daran zu sein, was Mohammed und Ana zugestoßen war. Ich konnte sie dahingehend immerhin beruhigen und etwas trösten.“
„Trösten?“
„Ja, trösten. Nicht nur du, mein alter Freund, hast ein gutes Händchen für Frauen.“
Trotz der Anspannung lachte Raffaele. „Als ob ich das nicht wüsste. Was wird mit der Kleinen geschehen? Hast du dich um sie gekümmert?“
„Was denkst du denn? Natürlich habe ich das. Netta ist in bester Obhut und unterwegs nach Toledo. Sie wird dort im Haus von Abdallahs Tochter leben. Ihr Vater hat Boten ausgeschickt, um seine Tochter und ihre Familie für eine längere Zeit zurück nach Hause zu holen. Vertraute Abdallahs werden die Villa bei Toledo übernehmen, dort wird Netta ab jetzt leben.“
„Abdallah befiehlt seine Tochter zu sich? Ist es so gefährlich geworden?“ Besorgt runzelte Raffaele die Stirn.
„Nein, nein!“ Vittorio winkte lächelnd ab. „Vor allem würde ich es nicht als ,zu sich befehlen‘ bezeichnen. Er ließ ihr wohl eher den Vorschlag unterbreiten, das Land doch zu ihrer eigenen und auch zur Sicherheit seiner Enkel für eine Weile zu verlassen. Sie hat entschieden, dem Rat zu folgen.“ Raffaele sah wieder beruhigter aus, also fuhr sein Freund fort. „Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn alles, was auch nur nach Maure aussieht, sich das Ganze hier erst einmal aus sicherer Entfernung ansieht. Abdallah hätte niemals zugelassen, dass seiner Tochter auch nur ein Haar gekrümmt wird.“
„Sicherlich nicht, aber du weißt, dass er es hasst, Aufsehen zu erregen, und deshalb dort in seinen fernen Wüstendomizilen ein sehr zurückgezogenes Leben führt. Ich kann ihn verstehen!“
Vittorio drehte sich um und neigte nachdenklich den Kopf. „Vielleicht sollte ich es ihm endlich gleichtun.“
Raffaele hüstelte leise und sehr dezent. „Du? So wie Abdallah über mehrere Jahrhunderte abgeschieden in der Wüste mit nur einer Frau zu leben – verzeih mir, aber das klingt so gar nicht nach dir.“
Vittorio konnte ein spontanes Grinsen nicht unterdrücken. „Aus deinem Mund überzeugen mich diese Worte ganz besonders, lieber Raffaele. Die Damenwelt Italiens wird dich schon seit einer ganzen Weile schmerzlich vermissen, darauf möchte ich wetten. Die Herren wohl eher weniger.“
Raffaele streckte sich grinsend auf seinem Kissenlager aus. „Nur kein Neid. Lass uns schlafen, mein Freund, morgen wird ein anstrengender Tag. Es ist an der Zeit, dass unser junger Freund mit seinem alten Leben abschließt. Ich möchte ihn so bald wie möglich wieder lachen sehen. Und ich weiß einen Ort, der dazu beitragen wird. Gute Nacht, Vittorio!“
8.
Mohammed stand reglos am Meeresufer, den
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