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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Plan.«
    Kate stellte die Flasche weg und erschauerte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, im tiefsten Winter mit diesem Alptraumzug zu fahren. Die einzige Lichtquelle bildete eine schwache 10-Watt-Birne an der Decke. »Was könnte die Zigeuner daran hindern, uns auszurauben und zu töten?« sagte sie.
    »Nichts«, sagte O'Rourke. »Abgesehen von der Tatsache, daß Janos schon früher mit ihnen Geschäfte gemacht hat und es den Behörden melden würde, sollten wir einfach verschwinden. Ich denke nicht, daß uns etwas geschehen wird.«
    Der Scheinwerfer des Zuges strahlte stroboskopartig die Stämme vorbeihuschender Bäume an. Plötzlich tauchte eine Wiese aus der Dunkelheit auf, und das plötzliche Verschwinden der Bäume machte Kate schwindlig. »Erzählen Sie mir von den Zigeunern, O'Rourke.«
    Der Priester rieb sich die Hände und hauchte sie an, um sie zu wärmen. »Frühe oder neuere Geschichte?«
    »Egal.«
    »Europäische Zigeuner oder unsere rumänischen Freunde?«
    »Rumänische.«
    »Die hatten es nicht leicht«, sagte O'Rourke. »Sie waren Sklaven bis achtzehnhunderteinundfünfzig.«
    »Sklaven? Ich dachte, die europäischen Länder hätten die Sklaverei schon viel früher abgeschafft.«
    »So ist es. Abgesehen von Rumänien. Abgesehen von den Zigeunern. Und in moderner Zeit ist es ihnen nicht viel besser ergangen. Hitler hat versucht, die ›Zigeunerfrage‹ zu lösen, indem er sie überall in Europa in Konzentrationslagern ermorden ließ. Über fünfunddreißigtausend wurden während des Krieges allein in Rumänien hingerichtet, und ihr einziges Verbrechen bestand darin, daß sie Zigeuner waren.«
    Kate runzelte die Stirn. »Ich wußte nicht, daß die Deutschen Rumänien während des Krieges besetzt hatten.«
    »Hatten sie auch nicht.«
    »Oh«, sagte sie. »Fahren Sie fort.«
    »Nun, bei der letzten rumänischen Volkszählung haben sich rund eine Viertelmillion Zigeuner als solche gemeldet. Aber die Mehrzahl möchte nicht, daß die Regierung etwas über ihre Herkunft erfährt, eben wegen der offiziellen Verfolgung, daher kann man davon ausgehen, daß sich mindestens eine Million im Land aufhalten.«
    »Was für einer Verfolgung?«
    »Offiziell«, sagte der Priester, »hat Rumänien unter Ceauşescu die Zigeuner nicht als eigenständige ethnische Gruppe anerkannt - nur als Untergruppe von Rumänen. Die offizielle Politik hieß ›Integration‹ - was bedeutete, Zigeunerlager wurden zerstört, Visa verweigert. Zigeunerarbeiter erhielten nur eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse und drittklassige Jobs, man schuf Zigeunergettos in den Städten, verweigerte Zigeunerdörfern auf dem Land Steuergelder zum Aufbau, behandelte Zigeuner generell mit Verachtung und belegte sie mit Klischees wie vor siebzig Jahren die Schwarzen in Amerika.«
    »Und heute?« fragte Kate. »Nach der Revolution?«
    O'Rourke zuckte die Achseln. »Gesetze und Verhalten sind weitgehend unverändert. Sie haben ja selbst gesehen, daß die Mehrzahl der ›Waisenkinder‹, die die Amerikaner adoptiert haben, Zigeunerkinder waren.«
    »Ja«, sagte Kate. »Kinder, die von ihren Eltern verkauft wurden.«
    »Richtig. Kinder sind das einzig wertvolle Gut, das Zigeunerfamilien im Überfluß haben.«
    Kate sah in die Dunkelheit hinaus. »Hatte Vlad Ţepeş nicht eine besondere Beziehung zu den Zigeunern?«
    O'Rourke grinste. »Das ist schon eine ganze Weile her, stimmt aber ... ich habe es auch gelesen. Der alte Vlad Dracula hatte Zigeuner als Leibwächter, einmal sogar eine ganze Armee ausschließlich von Zigeunern, und er zog sie gelegentlich für besondere Aufgaben heran. Als sich die Bojaren und andere Würdenträger gegen Dracula erhoben, waren die Zigeuner seine einzigen Verbündeten. Es scheint, als hätten sie die Mächtigen schon damals gehaßt.«
    »Aber Vlad der Pfähler gehörte zu den Mächtigen.«
    »Ein paar Jahre lang«, sagte O'Rourke. »Vergessen Sie nicht, daß er vor und nach seiner Zeit als Fürst mehr Zeit damit verbracht hat, zu fliehen und um sein Leben zu kämpfen, als er tatsächlich regierte. Dracula verabsäumte es nie, seinen Zigeunergefolgsleuten stets das zu geben, was sie immer zu schätzen wußten - Gold.«
    Kate verzog das Gesicht und zog die Handtasche näher zu sich. »Hoffen wir, daß zweitausend amerikanische Dollar die Art von Gold sind, die sie immer noch zu schätzen wissen.«
    Pater Michael O'Rourke nickte, danach saßen sie schweigend da, während der Zug in Richtung rumänische Grenze

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