Kinder der Nacht
Weltgesundheitsorganisation WHO im Mai dort gewesen waren, um die Hunderte heimatloser Kinder zu erfassen, die im Bahnhof selbst lebten, in aufgebrochenen Kabinen schliefen und die vorübereilenden Reisenden anbettelten.
Sie und O'Rourke hatten bei Ibusz, der staatlichen ungarischen Fremdenverkehrsagentur, in voraus zwei Abteile in der ersten Klasse dieses Orient-Expreß gebucht, aber als sie dort eintrafen, stand ihnen nur ein Abteil zur Verfügung, und ›Erste Klasse‹ bedeutete eine enge, unbeheizte Kabine mit zwei Pritschen, einem schmutzigen Waschbecken mit der Warnung, daß das Wasser - falls welches zur Verfügung stand - gesundheitsschädlich und ungenießbar sei, und so wenig Platz, daß O'Rourke sich gerade auf das niedrige Becken setzen konnte, während Kate auf der Pritsche kauerte und die Knie der beiden fast aneinander stießen. Keiner beschwerte sich.
Der Zug fuhr ruckartig an und verließ den Bahnhof pünktlich. Beide betrachteten stumm, wie sie Budapest hinter sich ließen, Reihenhäuser aus der Stalin-Ära am Stadtrand passierten, weiter durch unzulänglich beleuchtete Vororte mit Schlackesteinhäusern fuhren und schließlich die Dunkelheit des offenen Geländes erreichten, wo der Zug sich Richtung Süden und Osten wandte. Der Wind pfiff durch die verzogenen Fenster, Kate und O'Rourke kuschelten sich beide in die Mäntel.
»Ich habe vergessen, etwas zu essen mitzubringen«, sagte der Priester. »Tut mir leid.«
Kate zog die Brauen hoch. »Gibt es keinen Speisewagen?« Trotz des verwahrlosten ›Erste Klasse‹-Abteils sah sie immer noch das Bild eines eleganten Mahls zwischen Leinentischtüchern und Porzellanvasen mit frischen Blumen vor sich.
»Kommen Sie mit«, sagte der Priester.
Sie folgte ihm auf den schmalen Gang. Es gab nur acht Abteile in diesem Wagen der ›Ersten Klasse‹, und sämtliche Türen waren verschlossen. Der Zug schwankte und ratterte, da sie doppelt so schnell wie jeder amerikanische Zug durch Kurven rasten. Man hatte den Eindruck, als würde der Wagen in jeder Kurve aus den schmalen Schienen springen.
O'Rourke schob die schwere, zerkratzte Tür am Ende des Abteils zurück; dicke Taue waren vor den Eingang geschlungen worden. »Am anderen Ende sieht es genau so aus«, sagte der Priester.
»Aber warum ...« Klaustrophobie erfüllte Kate.
O'Rourke zuckte die Achseln. »Ich bin mit diesem Zug schon von Bukarest in den Westen gefahren, und da war es genauso. Vielleicht wollen sie nicht, daß die anderen Reisenden in die erste Klasse gelangen. Möglicherweise handelt es sich um eine Sicherheitsmaßnahme. Aber wir sind eingeschlossen ... wir können aus dem Zug hinaus, wenn er hält, aber wir können nicht von Wagen zu Wagen gehen. Spielt aber keine Rolle, weil wir sowieso keinen Speisewagen haben.«
Kate war zum Heulen zumute.
O'Rourke rüttelte an der ersten Tür. Eine schwergewichtige Matrone öffnete stirnrunzelnd.
»Egy uveg Sor, kerem«, sagte der Priester. Kate hörte das erste Wort als »Egsch«. O'Rourke sah Kate über die Schulter an. »Ich glaube, wir brauchen ein Bier.«
Die Frau mit der finsteren Miene schüttelte den Kopf. »Nem Sor ... Coca-Cola ... husz Forint.«
O'Rourke verzog das Gesicht und gab ihr einen Fünfzigforintschein. »Kettö Coca-Colas«, sagte er und hielt zwei Finger hoch. »Wechselgeld? Ah ... Fel tudya ezt váltani?«
»Nem«, sagte die stirnrunzelnde Frau und gab ihm zwei kleine Flaschen Cola. Sie schob die Tür zu.
In ihrem eigenen Abteil machte Kate die beiden Flaschen mit dem Schweizer Offiziersmesser auf, das Tom ihr gegeben hatte. Sie tranken Cola, schlotterten und betrachteten die schwarzen Bäume, die vor dem Fenster vorbeihuschten.
»Der Zug trifft gegen zehn Uhr morgen früh in Bukarest ein«, sagte O'Rourke. »Sind Sie sicher, daß Sie nicht an Bord bleiben wollen?«
Kate biß sich auf die Lippen. »Es ist Wahnsinn, mitten in der Nacht auszusteigen, was? Halten Sie mich für verrückt?«
Der Priester trank den letzten Rest seines Erfrischungsgetränks, dann wartete er noch einmal dreißig Sekunden. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich glaube, das Überqueren der Grenze könnte durchaus das Ende der Reise bedeuten. Lucian hat uns gewarnt.«
Kate sah in die Dunkelheit hinaus, während der Zug wieder mit Höchstgeschwindigkeit durch eine Kurve raste. »Es ist paranoid, was?«
O'Rourke nickte. »Ja ... aber selbst Paranoide haben Feinde.«
Kate sah auf.
»Ein Witz«, sagte der Priester. »Halten wir uns an den
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