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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ratterte und holperte und schwankte.
     
    Lokosháza war eine Grenzstadt, aber O'Rourke sagte, daß sich die tatsächliche Zollabfertigung in Curtizi befand, einer wenige Meilen entfernt an der Bahnlinie gelegenen rumänischen Stadt. Er sagte, daß sie an die schlimmen alten Zeiten erinnerte - zwielichtige Paßkontrolleure, die um Mitternacht oder bei Sonnenaufgang, je nach Richtung, in die der Zug fuhr, an die Tür klopften; Wachen mit Sam-Browne-Gürteln, automatischen Waffen, Hunden, die unter dem Zug schnupperten; und weitere Wachsoldaten, die beim Durchsuchen Matratzen und Kleidungsstücke im Abteil herumwarfen.
    Sie und O'Rourke warteten nicht auf den Zoll. Die meisten verbliebenen ungarischen Fahrgäste stiegen in Lokosháza aus, und sie und O'Rourke mischten sich unter sie, strömten mit der Menge den Bahnsteig entlang und entfernten sich von den Straßenlampen, als sie den Bahnhof hinter sich gelassen hatten. Es war ein kleiner Bahnhof in einer Kleinstadt, daher näherten sie sich schon zwei Blocks von den Gleisen entfernt dem Ortsrand. Es war sehr dunkel. Ein kalter Wind wehte von den Feldern jenseits der menschenleeren Straße. In der Umgegend bellten und heulten Hunde.
    »Das ist das Café, das Cioaba beschrieben hat«, sagte O'Rourke und deutete mit dem Kopf zu einem dunklen Gebäude mit geschlossenen Fensterläden. Auf einem großen Schild im Fenster stand: ZÁRVA, das O'Rourke mit ›geschlossen‹ übersetzte; ein kleineres Schild wußte zu berichten: AUTÓBUSZ MEGÁLLÓ, aber Kate glaubte nicht, daß heute nacht tatsächlich noch Busse verkehren würden.
    Sie traten in den Schatten eines leerstehenden Schlackesteingebäudes auf der anderen Straßenseite dem Café gegenüber und warteten dort, wobei sie von einem Fuß auf den anderen traten, um sich warm zu halten. »Scheint mehr Dezember als Anfang Oktober zu sein«, flüsterte Kate, als zehn oder zwölf Minuten verstrichen waren.
    O'Rourke beugte sich näher zu ihr. Kate konnte den Rasierschaum- und Seifegeruch seiner Wangen über dem ordentlich geschnittenen Bart riechen. »Sie haben noch keinen ungarischen oder rumänischen Winter erlebt«, flüsterte er. »Glauben Sie mir, für Osteuropa haben wir einen milden Oktober.«
    Sie hörten, wie der Zug anfuhr und mit viel Dampf und Maschinenlärm den Bahnhof verließ. Eine Minute später kam ein Polizeiauto langsam die Straße entlang, aber Kate und O'Rourke standen weit hinten in den Schatten, und das Auto hielt nicht an.
    »Ich glaube, Voivoda Cioaba hat beschlossen, daß vierhundert Dollar genug sind«, flüsterte Kate einen Augenblick später. Ihre Hände zitterten vor Kälte und Hilflosigkeit. »Was machen wir, wenn ...«
    O'Rourke ergriff ihre Hand im Handschuh. Der Lieferwagen war alt und verbeult, ein Scheinwerfer stand schief und strahlte die Felder statt der Straße an, aber der Wagen fuhr auf den Parkplatz des geschlossenen Cafés und blinkte zweimal mit den Lichtern.
    »Los«, flüsterte O'Rourke.
     
    Der Woiwode Nikolo Cioaba fuhr sie nur rund zehn Kilometer aus Lokosháza hinaus, bevor er von der gepflasterten Straße abbog, zwei ausgefahrene Spuren hinab an einem Zug Zigeunerwagen vorbeifuhr, die Kate wie aus einem Bilderbuch vorkamen, und dann weiter zu einem Senkloch, wo der unebene Weg aufhörte.
    »Kommt«, sagte er, und seine Goldzähne funkelten im Licht der Taschenlampe, die er in der Hand hielt. »Jetzt gehen wir zu Fuß.«
    Kate stolperte zweimal während des steilen Abstiegs und wäre beinahe gestürzt - sie hatte die irre Befürchtung, als müßte sie den ganzen Weg bis nach Rumänien in dieser felsigen Dunkelheit zurücklegen -, aber dann erreichten sie den Grund der Senke, der Woiwode Cioaba machte die Taschenlampe aus, und bevor sich ihre Augen anpassen konnten, wurden ein Dutzend abgeschirmte Scheinwerfer eingeschaltet. Kate blinzelte. Sechs fast nagelneue Landrover parkten unter Tarnnetzen, die an Holzpfählen hingen. Zwanzig Männer oder mehr - die meisten trugen wie Cioaba dicke Lammfellmäntel und hohe Hüte - saßen in den Fahrzeugen oder lehnten daran. Aller Augen waren auf Kate und O'Rourke gerichtet. Einer der Männer kam nach vorn: ein großer, schlanker Mann ohne Bart oder Schnurrbart; er trug einen dicken Wollblazer, darunter einen zerlumpten Pullover.
    »Mein ... chavo ... Sohn«, sagte der Woiwode Cioaba. »Balan.«
    »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Balan mit einem vage britischen Akzent. »Es tut mir leid, daß ich meinen Vater gestern nicht zu dem

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