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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Kanal 4 in Amerika übertragen. Ein Ungeheuer beißt ein paar Dutzend Menschen, und die Welt fieberte vor Interesse ... aber so sind nur Zehntausende Männer und Frauen tot und Hunderttausende Kinder in Lagerhäuser eingepfercht, wo sie ... verdammt.«
    Ich nickte, ohne mich umzudrehen. »Die Banalität des Bösen«, flüsterte ich.
    »Was?«
    »Die Banalität des Bösen.« Ich drehte mich um und lächelte dem Arzt grimmig zu. »Dracula wäre eine Schlagzeile. Das Elend Hunderttausender Opfer von politischem Wahnsinn, Bürokratie, Dummheit ... ist nur ... lästig.«
     
    Wir trafen kurz vor Einbruch der Nacht in Copşa Mica ein, und mir wurde auf der Stelle klar, warum das ›meine Stadt‹ war. Donna Wexler, Aimslea und Paxley blieben während des halbstündigen Aufenthalts im Zug, nur Carl Berry und ich hatten dort etwas zu tun. Fortuna ging voraus.
    Das Dorf - es war zu klein, von einer Stadt zu sprechen - lag in einem breiten Tal zwischen alten Bergen. Auf den Hängen lag Schnee, aber der Schnee war schwarz. Die Eiszapfen, die von den dunklen Zinnen der Häuser hingen, waren schwarz. Der Schneematsch auf den ungeteerten Straßen war ein grauschwarzer Mischmasch, und über allem hing eine sichtbare Glocke schwarzer Luft, als würden Millionen mikroskopischer Falter im erlöschenden Licht flattern. Männer und Frauen in schwarzen Mänteln und Schals gingen an uns vorbei, zogen schwere Handkarren oder führten Kinder an den Händen, und auch die Gesichter dieser Menschen waren rußgeschwärzt. Als wir uns der Mitte des Dorfs näherten, stellte ich fest, daß wir drei durch eine Schicht von Asche und Ruß wateten, die mindestens acht Zentimeter tief war. Ich habe aktive Vulkane in Südamerika und anderswo gesehen, und Asche und mitternächtlicher Himmel haben genauso ausgesehen.
    »Es ist eine ... wie man sagt ... Autoreifenfabrik«, sagte Radu Fortuna und deutete auf den schwarzen Industriekomplex, der das Ende des Tals beherrschte wie ein gestürzter Drache. »Sie stellen schwarzen Puder für Gummiprodukte her ... arbeiten rund um die Uhr. Der Himmel sieht immer so aus ...« Er deutete stolz auf den schwarzen Dunst, der sich auf allem niederließ.
    Carl Berry hustete. »Großer Gott, wie können die Menschen nur so leben?«
    »Sie leben nicht lange«, sagte Fortuna. »Die meisten alten Menschen wie sie und ich leiden an Bleivergiftung. Kleine Kinder haben ... wie heißt das Wort? Immerzu husten?«
    »Asthma«, sagte Berry.
    »Ja, kleine Kinder haben Asthma. Babys werden mit Herzen geboren, die ... wie sagen Sie, fehlgebildet sind?«
    »Mißgebildet«, sagte Berry.
    Ich blieb hundert Meter vor den schwarzen Zäunen und schwarzen Mauern der Fabrik entfernt stehen. Das Dorf hinter uns war eine schwarze Skizze vor grauem Hintergrund. Nicht einmal das Licht der Lampen konnte richtig durch die rußgeschwärzten Fensterscheiben dringen. »Warum ist das ›meine Stadt‹, Fortuna?« fragte ich.
    Er streckte die Hand zur Fabrik aus. Seine Handlinien waren schon schwarz vom Ruß, die Manschetten seines weißen Hemdes dunkelgrau. »Ceauşescu ist jetzt nicht mehr. Die Fabrik muß keine Gummiartikel für Ostdeutschland, Polen, die UdSSR mehr herstellen ... Möchten Sie? Sachen herstellen, die Ihre Firmen brauchen? Keine ... wie sagt man ... keine Umweltschutzbestimmungen, keine Vorschriften dagegen, Artikel so herzustellen, wie man will und Abfälle wegzuwerfen, wo immer man will. Also, möchten Sie?«
    Ich stand lange Zeit im schwarzen Schnee und wäre vielleicht noch länger dort gestanden, hätte der Zug nicht das Signal gegeben, daß er in zwei Minuten abfahren würde.
    »Vielleicht«, sagte ich. »Aber nur vielleicht.«
    Wir stapften durch die Asche zurück.

Kapitel 6
     
    Donna Wexler, Dr. Aimslea, Carl Berry und unser Professor emeritus, Dr. Leonard Paxley, fuhren mit dem wartenden VIP-Bus von Sighişoara nach Bukarest zurück. Ich blieb. Der Morgen war dunkel, finstere Wolken zogen über dem Tal dahin und hüllten die umliegenden Berghänge in ein Leichentuch wabernden Nebels. Das graue Gestein der Stadtmauer mit ihren elf Türmen schien mit dem grauen Himmel zu verschmelzen und das mittelalterliche Städtchen unter einer unentrinnbaren Glocke der Düsternis einzuschließen. Nach einem späten Frühstück füllte ich meine Thermosflasche, ließ den Dorfplatz hinter mir und erklomm die alten Stufen zu dem Haus in der Piaţa Muzeului. Die schmiedeeisernen Pforten zum Weinkeller waren abgeschlossen, die schmalen Türen

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