Kinder der Nacht
Fernsehsender werden Mütter interviewen, die vor Glück weinen.«
Ich nickte.
»Ihre amerikanischen Mediziner - und britischen - und westdeutschen - werden scharenweise in die Karpaten strömen, in die Bucegis und die Făgăraş - und wir werden viele weitere Waisenhäuser und Krankenhäuser ›entdecken‹, viele andere isolierte Stationen. Innerhalb von zwei Jahren wird das Problem in den Griff zu bekommen sein.«
Ich nickte wieder. »Aber sie werden höchstwahrscheinlich den Löwenanteil Ihres ... Reservoirs ... mitnehmen«, sagte ich leise.
Fortuna lächelte und zuckte wieder die Achseln. »Es gibt mehr. Immer mehr. Das wissen selbst Sie in Ihrem Land ausgerissener Teenager und Fotos vermißter Kinder auf Milchkartons, nicht?«
Ich trank meinen Becher leer, stand auf und ging zum Licht. »Die Zeiten sind vorbei«, sagte ich. »Überleben heißt Bescheidenheit. Das muß die ganze Familie eines Tages lernen.« Ich drehte mich zu Fortuna um, und meine Stimme drückte mehr Zorn aus, als ich selbst erwartet hatte. »Andernfalls, was? Wieder die Ansteckung? Ein Wachstum der Familie, schneller als Krebs, ansteckender als AIDS? Mit Zurückhaltung leben wir im Gleichgewicht. Überlassen wir uns der ... Fortpflanzung ..., werden bald nur die Jäger übrig sein, ohne Beute, zum Aussterben verurteilt, wie vor Jahren die Kaninchen auf der Osterinsel.«
Fortuna hielt beide Hände nach oben, Handflächen nach außen. »Wir wollen nicht streiten. Wir wissen das. Darum mußte Ceauşescu gehen. Darum haben wir ihn gestürzt. Darum haben Sie ihm geraten, nicht in seine Tunnel zu flüchten, um an die Auslöser heranzukommen, die das Ende von Bukarest bedeutet hätten.«
Einen Augenblick konnte ich den kleinen Mann nur ansehen. Als ich weitersprach, klang seine Stimme sehr müde. »Demnach möchten Sie mir gehorchen? Nach all den Jahren?«
Fortunas Augen strahlten. »O ja.«
»Und Sie wissen, warum ich zurückgekehrt bin?«
Fortuna stand auf und ging zu der dunklen Diele, wo eine noch dunklere Treppe wartete. Er deutete nach oben und schritt voran in die Dunkelheit, zum letztenmal mein Führer.
Das Schlafzimmer diente als großer Lagerraum über dem Touristenrestaurant. Vor fünf Jahrhunderten war es ein Schlafzimmer gewesen. Mein Schlafzimmer.
Dort warteten andere Mitglieder der Familie, die ich seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. Sie trugen die dunklen Gewänder, die wir ausschließlich den heiligsten Zeremonien der Familie vorbehielten.
Das Bett wartete. Mein Porträt hing darüber: dasjenige, das während meiner Gefangenschaft in Visegrăd im Jahre 1465 angefertigt worden war. Ich hielt einen Moment inne und betrachtete das Gemälde - ein ungarischer Adliger erwiderte meinen Blick, Säbelkragen mit Goldbrokat, goldene Knöpfe, die den Mantel hielten, ein Seidenhut im Stil der Zeit mit neun Perlenreihen gesäumt, die gesamte Kopfbedeckung gehalten von einer sternförmigen Brosche mit einem großen Topas in der Mitte. Das Gesicht war mir zutiefst vertraut und gleichzeitig erschreckend fremd: lange und gekrümmte Nase; grüne Augen, die grotesk groß wirkten; buschige Brauen und ein noch buschigerer Schnurrbart, eine wulstige Unterlippe über einer vorspringenden Partie von Kinn und Wangen - alles in allem ein arrogantes und beunruhigendes Gesicht.
Fortuna hatte mich erkannt. Trotz der Jahre, trotz der Verwüstungen des Alters und der chirurgischen Eingriffe, trotz allem.
»Vater«, flüsterte einer der alten Männer, die beim Fenster standen.
Ich sah ihn müde blinzelnd an. Ich konnte mich nicht mehr an seinen Namen erinnern, wahrscheinlich einer der Cousins meiner Dobrin-Brüder. Ich hatte ihn zum letztenmal vor mehr als eineinhalb Jahrhunderten während der Zeremonie gesehen, bevor ich nach Amerika ausgewandert war.
Er kam zu mir und berührte zaghaft meine Hand. Ich nickte, holte den Ring aus der Tasche und streifte ihn mir über den Finger.
Die Männer in dem Raum knieten nieder. Ich konnte das Knacken und Ächzen uralter Gelenke hören.
Der Cousin der Dobrins stand auf und hielt ein schweres Medaillon ins Licht.
Ich kannte dieses Medaillon. Es repräsentierte den Orden des Drachen, einen Geheimbund, der 1387 gegründet und 1408 reformiert worden war. Das goldene Medaillon an der Goldkette war in Form eines Drachen gestaltet - eines zum Kreis gekrümmten Drachen, Maul offen, Beine ausgestreckt, Schwingen ausgebreitet, Schwanz um den Kopf geringelt, die ganze Gestalt um ein
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