Kinder der Nacht
und erblickte einen hünenhaften Mann im grauen Overall, der die Straße entlang auf eine alte Frau zulief, die sich unmittelbar hinter Kate bemühte, in Sicherheit zu gelangen. Die Frau hielt noch ein Transparent mit der Aufschrift FREIHEIT in Englisch und Rumänisch an die Brust gedrückt.
Kate wußte, daß es sich bei den ›Bergarbeitern‹ häufig um Agenten der Securitate handelte, die die neue Regierung benützte, um die Opposition zu terrorisieren, genau wie es Ceauşescu getan hatte; viele der Bergleute waren aber auch tatsächlich Bergleute, brutale Schläger, die sich immer noch der Kommunistischen und der Neofaschistischen Partei verpflichtet fühlten und als Stoßtrupp in die Stadt gebracht wurden. Sie schienen Spaß an ihrer Arbeit zu haben.
Der Bergarbeiter, der hinter Kate lief, packte die alte Frau am Kragen, warf sie gegen einen schmiedeeisernen Zaun und schlug mit einem dicken Holzprügel auf sie ein. Die Frau schrie. Kate blieb stehen, obwohl sie wußte, daß es ein Wahnsinn war, sich einzumischen, dann duckte sie sich zwischen zwei Autos und kramte in ihrer großen Tasche. Ängstliche Fußgänger strömten auf dem Gehweg und der Straße vorbei, aber niemand blieb stehen und half der Frau, die zusammengeschlagen wurde. Diese war inzwischen gegen den Zaun gesackt, aber der Bergarbeiter hatte sich breitbeinig vor sie gestellt und prügelte sie zielstrebig auf das Pflaster hinunter.
Kate holte zwei Einwegspritzen mit Demerol aus dem Ärzteset, warf die Verpackungen weg, ging direkt zu dem Bergarbeiter und stieß ihm beide Nadeln in den Stiernacken. Sie wich zurück, als der Bergarbeiter fluchte und das fassungslose und wütende Gesicht in Kates Richtung drehte. Er spie aus, rief ihr etwas zu und hob den Knüppel.
Kate trug Bauernschuhe mit dicken Sohlen, die Lucian ihr gekauft hatte. Die waren so schwer wie Kampfstiefel. Kate balancierte auf dem linken Fuß und trat dem Bergarbeiter mit einem ausholenden Tritt in die Hoden, wie ihn Tom ihr bei ihren Footballspielen in Boulder beigebracht hatte. Sie stellte sich einen Tritt vor, der den Ball aus einer Entfernung von dreißig Metern über das Tor befördern mußte, und legte ebensoviel Kraft hinein.
Der große Bergarbeiter sackte ohne ein Wort in sich zusammen und wand sich auf dem Gehweg. Er stand nicht mehr auf. Vom Ende der Straße, Richtung Plaza, erklangen weitere Trillerpfeifen und Schreie. Immer mehr Bergleute jagten fliehende Demonstranten, ein schwarzer Mercedes versuchte, sich einen Weg durch den stehenden Verkehr auf der Ştirbei Vodă zu bahnen.
Kate kniete neben der blutenden Frau und versuchte, ihr auf die Füße zu helfen. Es sah aus, als wäre die Nase der Frau gebrochen, Zähne fehlten zwischen den geschwollenen Lippen. Plötzlich kam ein Mann über die Straße, legte der Frau einen Arm um die Schulter und sprach ermutigend auf sie ein. Offensichtlich ein Freund oder Verwandter. Wo warst du, als wir dich gebraucht haben? dachte Kate, dann überließ sie sie ihrem Schicksal, nahm die Tasche und schritt hastig die Straße entlang.
Als sie sich umdrehte, sah sie den Mercedes nur einen halben Block entfernt, und dahinter Blinklichter von Polizeiwagen. Plötzlich sah sie eine Lücke in dem schmiedeeisernen Zaun links vor sich, drängte sich zwischen neugierigen Schaulustigen hindurch, ging eine Steintreppe hinab und erkannte, wo sie sich befand.
Der Cişmigiu-Park. Derselbe Eingang, zu dem O'Rourke sie an jenem Maitag vor so vielen Ewigkeiten gebracht hatte.
Kate ging weiter in den Park hinein, hielt sich an die schmalen Wege und wenig benutzten Pfade. Von den umliegenden Straßen konnte man Sirenen und Schreie hören, die sich entfernten, und mindestens noch einen Schuß. Kate stellte fest, daß ihr Knie schlimmer blutete, als sie gedacht hatte; sie fand eine Steinbank hinter einer Hecke, abseits der Fußwege, und säuberte die Wunde, so gut sie konnte, mit ihrem letzten Kleenex. Die Haut war vom Knie bis dicht oberhalb des Knöchels aufgeschürft. Kate benützte ein Baumwolltaschentuch und ein Tampax aus ihrer Handtasche als behelfsmäßigen Verband.
Nachdem sie die Blutung so vorerst gestillt hatte, saß sie einfach nur desorientiert und schmerzgepeinigt da. Kalter Wind kam auf und wirbelte Blätter rings um sie herum von den Bäumen. Die Blumenbeete waren ungepflegt, die Blumen nach schwerem Frost abgestorben. Stapfende Schritte hallten vom Hauptweg direkt hinter einer dichten Hecke.
Da fing Kate an zu weinen, weil sie das
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