Kinder der Nacht
passiert.«
Kate nickte verstehend. »Steig aus dem Auto aus, Lucian. Ich weiß nicht mehr, wem ich trauen oder was ich glauben soll, aber ich weiß, ich bin dir dankbar für das, was du vor einer Stunde getan hast. Er ... sie ...« Ihre Hand fing an zu zittern, sie stützte sie auf dem Knie ab. Die Mündung der Pistole blieb auf Lucians Brust gerichtet. »Wenn du mir versprichst, mir nicht zu folgen, lasse ich dich einfach hier zurück. Du kannst dich alleine nach Ungarn durchschlagen.«
Lucian machte die Tür auf und stieg aus. Die Straße war verlassen, abgesehen von einem Zigeunerwagen, der vorüberrumpelte. Das schwarze Pferd mit dem durchhängenden Rücken hätte unter der Rußschicht jede beliebige Farbe haben können. Die Gesichter der Kinder, die unter der grauen Sackplane hervorsahen, wiesen rußige Striemen auf, wo ihnen Tränen die Wangen hinabgelaufen waren. Ihre Hände waren schwarz.
»Kate«, sagte Lucian mit trauriger Stimme, »warum?«
»Keine Sorge. Du hast selbst gesagt, wenn sie mich erwischen, werden sie mich einfach bei ihrer Zeremonie opfern. Sie werden sich nicht die Mühe machen und mich verhören. Wie dem auch sei, ich könnte alles aushalten bis ... wann? Fünfundzwanzig nach zwölf?«
Lucian umklammerte die obere Strebe der Autotür. »Aber warum?«
Kate ließ die Pistole sinken. »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich Joshua und O'Rourke da oben nicht im Stich lasse. Leb wohl, Lucian.« Sie rutschte hinüber, zog die Tür zu, legte den Gang ein und wendete auf der verlassenen Straße um hundertachtzig Grad, damit sie zu der Kreuzung zurück konnte, wo die Autobahn 14 nach Süden Richtung Sibiu führte. Die Windschutzscheibe war schon so mit Ruß und Asche verschmiert, daß sie die Scheibenwischer einschalten mußte. Diese rutschten mit einem Geräusch wie Fingernägel auf Glas hin und her.
Lucian war über die Straße gelaufen, während sie wendete. Jetzt streckte er beide Hände aus, wie sie es bei den Anhaltern in Mediaş gesehen hatte. Als sie an dem rußigen Stopschild hielt, streckte er beide Daumen hoch.
»Danke, Babe«, sagte er, als er sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. »Ich dachte schon, es würde mich nie jemand mitnehmen.«
Kate hatte die Pistole auf dem Schoß liegen. »Versuch nicht, mich aufzuhalten, Lucian.«
Er hielt drei Finger hoch. »Nein. Ich schwöre es. Pfadfinderehrenwort.«
»Und warum ...«
Er zuckte die Achseln, machte es sich auf dem zerrissenen Beifahrersitz bequem und stützte die Knie ab. »He, Kate, haben Sie gewußt, daß wir versucht haben, Ceauşescu durch Strom zu töten, bevor wir ihn erschossen haben?«
Kate wollte etwas sagen, aber dann wurde ihr klar, daß es sich um einen von Lucians dummen Witzen handelte. »Nein«, sagte sie, »das habe ich nicht gewußt.«
»Doch«, sagte Lucian, »aber obwohl wir den Knopf ein dutzendmal gedrückt haben, konnte ihm der Strom nichts tun. Hinterher, während das Erschießungskommando nach Kugeln suchte, haben wir ihn gefragt, warum Elektrizität nicht funktioniert hat. Wissen Sie, was er antwortete?«
»Nein.«
»Látjátok, minding rossz vezetö voltam.«
Kate wartete.
»Er sagte: ›Wissen Sie, ich war schon immer ein schlechter Führer/Leiter.‹ Verstanden? Vezetö heißt Führer, aber auch so etwas wie Halbleiter. Verstanden?«
Kate schüttelte den Kopf. »Du mußt nicht mit mir kommen, Lucian.«
Er spreizte die Finger und ließ sich noch tiefer in den Sitz sinken. »He, warum nicht? Es ist leichter zu folgen. Ich bin auch immer ein lausiger Vezetö gewesen.«
Kate bog nach rechts auf die Autobahn 14 ab. Die schwarzen Buchstaben waren gerade noch auf dem rußgrauen Schild zu erkennen: SIBIU 43 KM. RÎMNÎCU VÎLCEA 150 KM.
Als sie Rauch und Ruß von Copşa Mica hinter sich gelassen hatten, stellte Kate die Scheibenwischer ab, mußte aber die Scheinwerfer einschalten. Obwohl es noch früh war, wurde es bereits dunkel.
Träume von Blut und Eisen
Falls es ein schlimmeres Los gibt als das eines Patriarchen, der sich machtlos in den Händen der eigenen Familie befindet, so möchte ich gar nicht darüber nachdenken. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf, aber es wird immer deutlicher, daß meine letzte Tat für die Familie als bloßes Zeremonienspiel im Machtkampf von Radu Fortuna inszeniert wird.
Radu. Ich muß an meinen Bruder Radu denken, den Knaben mit den langen Wimpern, der zum Liebling mehr als eines Sultans wurde. Der Knabe, der aufwuchs und mir durch Verrat und
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