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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Arglist den Thron gestohlen hat. Die Menschen nannten ihn Radu den Schönen und begrüßten seine sanfte Art nach meinen strengen Jahren als ihr Lehnsherr.
    Die Idioten.
    Ich wußte, welch hirnloser, feiger kleiner Sodomit Radu war. Sultan Mehmed hatte keine Probleme, mit Radu als seiner Marionette die Walachei und Transsilvanien zu beherrschen: Gott allein weiß, der Sultan hatte seine Finger oft genug in dieser speziellen Marionette gehabt.
    Ich, Wladislaus Dragwylya, hatte die Türken entscheidender als jeder christliche Herrscher der Geschichte geschlagen, hatte den Sultan zitternd nach Konstantinopel zurückgejagt und meinem Volk die Freiheit errungen. Aber mein Volk hat mich verraten.
    Der Sultan hatte Radu, sein Spielzeug, in der Walachei zurückgelassen, damit er mir meine Bojaren abspenstig machte und ihre Treueschwüre unterminierte. Radu war in den dunklen Kammern der Diplomatie erfolgreich, wo er und der Sultan bei Tageslicht auf den Schlachtfeldern versagt hatten. Nun, da ich die Freiheit der Sieben Städte durch Vergießen meines eigenen Blutes gewährleistet hatte, wandten sich die Bojaren der deutschen Festungen gegen mich und schlossen einen geheimen Pakt mit der Schlange Radu.
    Im Mittsommer des Jahres 1462 war meine Position, wie Politiker sich heute ausdrücken, unhaltbar geworden. Ich hatte die Türken geschlagen, wo ich sie gefunden hatte, aber mein e Armee hinter mir war geschmolzen wie Zucker im Mund eines Kindes. Ich nahm meine wenigen und treuesten Bojaren, meine tapfersten und am besten ausgebildeten Soldaten und floh. Ich floh zu meinem Schloß über dem Fluß Argeş.
    Hier die Legende, die von meinen letzten Stunden in Schloß Dracula berichtet.
    Die Türken rückten in der Nacht vor und postierten ihre Mörser auf den Hochebenen in der Nähe des Dorfes Poenari auf den Klippen jenseits des Argeş. Am Morgen wollten sie meine Zitadelle erstü rmen. Dann, so will es die Legende, gedachte einer meiner Verwandten, der vor Jahren von den Türken verschleppt worden war, meiner großen Güte ihm gegenüber und seiner Liebe zur Familie, erklomm eine hohe Kuppe und feuerte einen Pfeil als Warnung durch das einzige erleuchtete Fenster meines Turms. Die Legende berichtet weiter, der Pfeil wäre so wohlgezielt gewesen, daß er die Kerze auslöschte, bei deren Licht meine Konkubine las.
    Sie war allein im Zimmer, überliefert uns die Geschichte. Als sie die Nachrich t vom bevorstehenden Angriff der Türken las, weckte sie mich, versicherte mir in hysterischem Tonfall, sie wolle ihren Körper lieber von den Fischen des Argeş fressen als von den Türken berühren lassen, und warf sich von den Zinnen in den dreihundert Meter tiefer gelegenen Fluß. Zum Angedenken an diese Geschichte heißt der Fluß bis auf den heutigen Tag Rîul Doamnei - Fluß der Prinzessin.
    Das alles stimmt nicht.
    In Wahrheit gab es keinen Verwandten, keinen Pfeil mit einer Warnung und keinen selbstlosen Freitod. Hier ist die Wahrheit:
    Wir hatten von der Zitadelle aus zwei Tage lang beobachtet, wie Radu und die Türken auf Poenari und die Klippen dahinter vorrückten. Zwei weitere Tage hatten wir ihr Bombardement erduldet, obschon ihre Kirschholzgewehre kaum Schaden anrichten konnten; ich hatte die Türme mit soviel Schichten Stein und Lehmziegeln befestigen lassen, daß sie diesem unbedeutenden Beschuß mühelos standhielten.
    Dennoch wußten wir, daß Radus Reiter am Morgen den Argeş überqueren und das Tal entlang zu d en Bergen jenseits der Festung vorstürmen würden, während die türkischen Infanteristen, dumm und unerschütterlich wie wandelnde Baumstämme, zu Hunderten sterben mußten, wenn sie die Felswand der Zitadelle hinaufkletterten. Aber sie würden siegen. Unsere Streitkräfte waren zahlenmäßig unterlegen, die Festung so abgelegen auf ihrer einsamen Felsspitze, daß es keinen anderen Ausgang als die Niederlage von Fürst Dracula geben konnte. In jener Nacht war ich vollauf mit Vorbereitungen für meine Flucht beschäftigt, als meine Konkubine, Voica mit Namen, meine Zeit mit einem Streit vergeuden wollte. Frauen haben überhaupt kein Gespür für den richtigen Zeitpunkt; wenn sie streiten wollen, dann müssen sie streiten, und dabei ist es einerlei, ob wichtige und große Ereignisse stattfinden.
    Voica und ich schritten auf den dunklen Zinnen entlang, während sie mit tränenerstickter Stimme sprach. Das Thema waren weder die vorrückenden Türken noch die Bedrohung durch meinen verräterischen Bruder Radu,

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