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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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und darüber hinaus das genaue Gegenteil von allen Beamten, die Kate im Land kennengelernt hatte - und mitgeteilt, daß Joshuas Ausreisevisum fertig und genehmigt war. Sie hatten auf die üblicherweise erforderliche Unterschrift eines leiblichen Elternteils verzichtet. Der rumänische Teil des Adoptionsvorgangs gestaltete sich überraschend einfach.
    Die amerikanische Botschaft war nicht so schnell, aber am Samstagnachmittag hatte Mr. Crawley Joshuas Einreisevisum fertig ausgestellt - Lucian hatte eine Nikon mit ins Krankenhaus gebracht, um ein Foto von dem Kind zu machen, aber wie sich herausstellte, war kein Foto erforderlich - , und dann begann der amerikanische Teil des Adoptionsvorganges über ihre Kontakte zu Rocky Mountain Adoption Option. Deren amerikanisches Hauptquartier lag in Denver, daher würde Kate keine Mühe haben, den Vorgang abzuschließen, wenn sie zu Hause war.
    Mr. Popescu, der Verwaltungschef des Krankenhauses Distrikt Eins, war anfangs unzufrieden, daß ihre aufbrausende amerikanische Besucherin eines der Kinder aus einer seiner Stationen mitnehmen wollte - darüber hinaus noch, ohne ihn für dieses Privileg zu bezahlen -, aber Telefonanrufe vom Gesundheitsministerium und die Bestätigung rumänischer Kinderärzte, daß das Kind praktisch keine Überlebenschance hatte und demzufolge lediglich eine Belastung für den Etat des Krankenhauses darstellte, beruhigten den kleinen Mann offenbar so weit, daß er Kate am letzten Tag ihres Aufenthalts nur noch süßlich angrinste.
    Der gesamte Papierkram war erledigt. Pan American war darüber informiert, daß ein sehr krankes Kind in die Staaten gebracht wurde und hatte in Frankfurt zusätzliche medizinische Ausrüstung bereitgestellt. Kate brachte ihre eigene Ärztetasche mit an Bord, die mit Vorräten aus den Beständen des Roten Kreuzes und sogar gestohlenen Spritzen, IV-Tropfe und Antibiotika aufgefüllt worden war, welche Lucian irgendwie von der medizinischen Fakultät organisiert hatte. Bei den Spritzen handelte es sich um Einwegspritzen westlicher Prägung, die noch steril verpackt waren. Die Antibiotika stammten aus Westdeutschland. Kate war zutiefst gerührt, weil sie wußte, welchen Preis das alles auf dem Schwarzmarkt gebracht hätte.
    Sie wußte zwar, daß diese Vorräte in Rumänien bleiben sollten, um einigen der Tausende anderer Kinder in den Krankenhäusern zu helfen, aber im Grunde ihres Herzens wußte sie auch, daß sie alles tun würde, alles stehlen und alles leugnen, nur um Joshua am Leben zu halten. Nachdem Kate sich fast zwei Jahrzehnte lang der medizinischen Ethik unterworfen hatte, mußte sie nun betroffen feststellen, daß es höhere Werte gab.
    Sie hatte seit Donnerstag versucht, ihren Ex-Mann Tom anzurufen, aber sein Anrufbeantworter in Boulder leierte immer nur mit Toms tiefer, fröhlicher Kleinjungenstimme herunter, daß er sich auf einer Floßfahrt auf dem Arkansas River befand und keine Ahnung hatte, wann er wieder zurück sein würde. Hinterlassen Sie eine Nachricht, wenn Ihnen danach ist. Kate hinterließ vier Nachrichten, und jede war ein klein wenig verständlicher als die vorangehende.
    Ihre Trennung von Tom vor sechs Jahren war ruhig statt melodramatisch gewesen, resigniert statt wütend. Wie es bei etwa einem Prozent aller geschiedenen Ehen der Fall ist, waren sie und ihr Ex-Mann nach der Scheidung engere Freunde geworden und gingen häufig nach der Arbeit essen oder etwas trinken. Tom, gerade vierzig geworden, aber stark wie der sprichwörtliche Stier und auf eine Tom-Sawyer-Weise hübsch, konnte sich endlich eingestehen, daß es stimmte - er war nie erwachsen geworden. Sein Job in Boulder, teils Flußschiffer, teils Bergsteiger, teils Radrennfahrer, teils Führer von Himalajaexpeditionen, teils Naturfotograf und Vollzeitabenteuersucher, hatte ihm - wie er inzwischen selbst eingestand - die perfekte Ausrede dafür geliefert, nie erwachsen zu werden.
    Was Kate anbetraf, sie hatte sich in den vergangenen Monaten eingestehen können, daß sie möglicherweise zu sehr erwachsen geworden war, daß ihre über-erwachsene medizinische Persönlichkeit jegliche kindliche Freude verdrängte, die sie am Anfang mit ihm geteilt hatte. Es wurde nie über eine mögliche Aussöhnung zwischen den beiden gesprochen - Kate war sicher, keiner konnte sich vorstellen, je wieder mit dem anderen zusammenzuleben -, aber in den letzten Jahren waren ihre Unterhaltungen entspannter geworden, und sie weihten einander offenherziger in kleine

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