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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Beinen, die mich nicht mehr trugen, vor eben diesem Fenster mit klopfendem Herzen auf der Ottomane meines Vaters zusammenbrach, während die Bilder dieser verzagten, zum Tode verurteilten Männer und Frauen noch frisch in mein Gedächtnis eingebrannt waren, obwohl ihre tatsächlichen Schreie in der kühlen Luft, die zum offenen Fenster meines Vaters hereinwehte, verhallten und schwächer wurden.
    Mein Vater, Vlad Dracul, hatte diese Menschen zum Tode durch den Strang verurteilt. Besser gesagt, er hatte die Urteile mit nichts weiter als einer Handbewegung oder einem Nicken zu einem Untergebenen bestätigt. Vater hatte die Gesetze geschaffen, die diese Männer und Frauen verurteilten, und sorgte nun für deren Durchsetzung. Vater hatte dieses große Entsetzen über diese Menschen gebracht, Vater hatte dieses greifbare Schlagen der Schwingen des Todes da unten auf dem Platz bewirkt.
    Ich erinnere mich, wie ich hier auf der Ottomane lag, und spürte, wie mein Herzschlag sich normalisierte, wie sich die erste Verlegenheit ob meiner seltsamen Erregung einstellte ... ich erinnere mich, wie ich in diesem Zimmer lag und dachte: ... Eines Tages werde ich diese Macht besitzen.
    Als ich vier Jahre alt war, trank ich in eben diesem Zimmer zum erstenmal aus dem Kelch. Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Meine Mutter war nicht zugegen. Nur Vater und fünf andere Männer, die ich vorher noch nie gesehen hatte, allesamt mit den zeremoniellen grün-roten Gewändern des Ordens des Drachen angetan, waren an jenem Abend anwesend. Ich erinnere mich an den bunten Gobelin hinter Vaters Thron, der nur für diese Nacht aufgehängt worden war- ein großer Drache, der sich zu einem Kreis goldener Schuppen zusammengerollt hatte, das furchteinflößende Maul aufriß, die Schwingen spreizte und die gewaltigen Krallen zu tödlichen Klauen krümmte. Ich erinnere mich an das Licht der Fackeln und das gedämpfte Ritual des Ordens des Drachen. Ich erinnere mich an die Darbietung des Kelchs. Ich erinnere mich, wie ich zum erstenmal Blut kostete. Ich erinnere mich an die Träume, die es mir in jener Nacht bescherte.
    Als ich fünf war, im Jahre des Herrn 1436, hörte ich in diesem Zimmer, wie mein Vater dem Hof seine Absicht kundtat, Land und Titel seines sterbenden Halbbruders Alexander Aldea an sich zu reißen, womit Vater zum ersten vollwertigen Fürsten der Walachei wurde. Ich erinnere mich an den Klang von Pferdehufen in der Winterluft vor dem Fenster meines Kinderzimmers, an das Quietschen von Leder und das tödliche Klirren von Eisen auf Eisen, als d ie Kavallerie in jener Dezembernacht vorüberritt. Ich erinnere mich, wie ich den Wohlstand der kaiserlichen Stadt Tîrgovişte liebte, ich erinnere mich an das sinnliche Gefühl der italienischen, ungarischen und lateinischen Worte, die ich dort lernte, jede neue Silbe so vollmundig wie der Geschmack des Blutes in meinem Mund, und ich erinnere mich an die Erregung hinter dem trockenen Geschichtsunterricht, den ich von meinem bojarischen Hauslehrer und den alten Mönchen dort erhielt. Und ich erinnere mich, wie kurz diese wunderschöne Zeit sein sollte.
    Ich war zwölf Jahre alt, als mein Vater mich und meinen jüngeren Halbbruder Radu dem türkischen Sultan Murad als Geiseln gab. Möglicherweise hatte er das so nicht geplant, als wir nach Gallipoli ritten, um den Sultan zu treffen, denn Vater wurde ebenfalls wenige Minuten nachdem wir die Stadttore erreicht hatten, von den Männern des Sultans überwältigt. Aber Vater schwor später einen Eid auf die Bibel und den Koran, sich dem Willen des Sultans nicht zu widersetzen, und unsere Rolle als Geiseln war Teil dieses Schwurs. Radu war erst acht, und ich kann mich noch an seine Tränen erinnern, als der eskortierte Wagen uns von Gallipoli fort nach der Festung Egrigoz in der Provinz Karaman im westlichen Anatolien brachte.
    Ich weinte nicht.
    Ich erinnere mich, wie kalt dieser Winter war, wie seltsam das Essen, und daß die männlichen Diener, die sich um unsere Bedürfnisse kümmerten, auch die Tür zu unserem Gemach absperrten, wenn sich die frühe Dämmerung über die Gebirgsstadt senkte. Ich erinnere mich an die Betroffenheit der Männer des Sultans, als ihnen die Zeremonie des Kelchs erklärt wurde, aber sie akzeptierten sie als eine von vielen Barbareien des christlichen Glaubens. Ihre Gefängnisse waren voll von Verbrechern, Sklaven und Kriegsgefangenen, die darauf warteten, daß man sich ihrer entledigte; daher war es nicht schwierig,

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