Kinder der Nacht
bestimmt auf ihren Arm. Kate verstummte, holte Luft, nickte.
»Warten Sie bitte einen Augenblick hier, ja?« bat er. Er brachte ihr noch einen Becher Wasser und strich ihr über das Haar, als sie daraus trank.
Kate spürte, wie die Wut in ihr brodelte. Es war Jahre her, daß sie so wenig Einfluß auf eine Situation gehabt hatte.
Pater O'Rourke beugte sich in die nächstgelegene Koje. »Donna, dürfte ich einen Augenblick ihr Büro benützen? Ja, nur ein paar Minuten, ehrlich. Ich nehme den Hörer ab, wenn Seine Eminenz anruft. Danke, Donna. Sie sind ein Schatz.«
Kate stellte fest, daß sie durch Tränen blinzelte, als sie sah, wie die junge Frau sich entfernte. Pater O'Rourke winkte ihr und betrat die Koje. Sie hörte, wie er die Telefonistin um eine Satellitenverbindung mit den Staaten bat. Kate wußte, daß 202 eine Washingtoner Vorwahl war.
Die Unterhaltung konnte nicht länger als zwei Minuten gewesen sein, und sie bekam nur Bruchstücke davon mit, da ihr ganzes Denken darum kreiste, was sie Mr. Crawley von der Botschaft alles hätte sagen sollen.
»Hallo, Jim ... ja, Mike O'Rourke, ganz recht ... prima, prima, wie geht es dir? Nein, dieses Mal nicht Lima oder Santiago ... Bukarest. Jawohl.«
Kate schloß die Augen. Sie gehörte zu den fünfzehn besten Hämatologen der westlichen Hemisphäre und hörte einem alten Gemeindepriester zu, der ein Schwätzchen mit jemand aus seinem ›Alte Kameraden‹-Bekanntenkreis hielt, wahrscheinlich einem anderen Priester an der Georgetown University oder sonstwo - ein dummer Jesuit mit einem Schwager im Innenministerium.
Nein, verbesserte sie sich, Priester haben keine Schwager. Oder doch?
»Genau das ist es«, sagte O'Rourke ins Telefon. Kate stellte fest, daß sie gehört hatte, wie er mit einem Dutzend Worten oder weniger das Problem mit ihrem Visum darlegte. »Das ist es, Jim ... dein Gehirn hat seit den Tagen der Fahrradpatrouille kein Moos angesetzt. Sie gehört zu den wenigen Amerikanern, die ich in den vergangenen eineinhalb Jahren hier gesehen habe, die versuchen, eines der echten Waisenkinder zu adoptieren ...ein sehr krankes Kind ... krank, aber keinesfalls ansteckend ... ganz recht ... und dieser Dummkopf in der Visaabteilung macht es ihr unmöglich. Ja, ich stimme zu, es läuft auf ein Todesurteil hinaus.«
Kate spürte, wie ihre Haut klamm wurde, als sie es jemand anderen sagen hörte. Joshua. Tot. Sie dachte an die winzigen Fingerchen, die vertrauensseligen Augen. Sie dachte an Dutzende und Aberdutzende namenlose Gräber, die sie im Verlauf der Rundreise durch Bukarest und weiter hinter den Waisenhäusern und Kinderkliniken gesehen hatte.
»Okay, Jimmy. Dir auch, Junge. Nein, Kev ist noch in Houston, glaube ich ... NASA ... und Dale arbeitet in den Grant Tetons oder wo auch immer an seinem nächsten Buch. Nein, hm, das war Lawrences dritte Hochzeit. Nein, er hatte mich als Gast eingeladen. Sie hatten eine Art Grand-Prix-Fahrer, der sich als Zen-Guru versucht und die eigentliche Trauung durchführte. Dir auch, Amigo. Wir unterhalten uns später noch einmal.«
Er kam zu ihr und tätschelte ihr das Knie wie ein Vater seiner Tochter, die geweint hat. Kate schluckte die Wut über sich selbst und die Situation hinunter. Sie versuchte an die Blutspezialisten, CDC-Administratoren, Medienleute, Zeitungsreporter und Medizinlobbyisten zu denken, die sie kannte. Ganz bestimmt mußte doch jemand darunter sein, der mehr Muskelschmalz aufbieten konnte als O'Rourkes Kumpel aus Georgetown. Sie würde gleich heute nachmittag mit den Telefongesprächen beginnen. Jemand würde für sie Druck auf das Innenministerium ausüben. In drei Tagen?
»Ich bringe Sie jetzt zum Krankenhaus zurück«, sagte der Priester zu ihr.
»Meinetwegen«, sagte sie. Bevor sie die Innentür der Botschaft erreicht hatte, drückte sie ihm den Arm unter dem schwarzen Stoff. »Danke, O'Rourke. Danke für den Versuch.«
»Gern geschehen, Neuman.«
Sie waren gerade an der Tür, als Mr. Crawley von oben die Treppe heruntergelaufen kam und in seiner Hast fast über den Marmorboden schlitterte. Seine Krawatte saß schief. Das Haar war zerzaust. Sein Gesicht gerötet, abgesehen von der blassen Partie um den Mund herum, und er hatte einen Ausdruck in den Augen, bei dem Kate dachte, daß ein kleiner Beamter mit einem uneinprägsamen Namen gerade gesehen hatte, wie seine mögliche Karriere mit Glanz und Gloria den Bach runterging. Was war mit ihm geschehen?
»Mrs. ... äh ... Doktor Neuman!« rief der
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