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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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vergessen, Ihnen das Flugticket und ... das alles hier zu erstatten.« Sie deutete müde in den Flur.
    Der Priester schüttelte den Kopf. »Ich habe ein Darlehen von einem wohlhabenden Jugendfreund.« Er grinste zum ersten Mal in der Woche, die er bei ihr war, und ließ weiße Zähne gegen den dunklen Bart erkennen. »Dale ist Schriftsteller und fängt sowieso nie etwas Vernünftiges mit seinem unverdienten Vermögen an. Er hat mir das Darlehen mit Freuden gewährt.«
    »Nein, ich werde Ihnen ... alles ersetzen«, sagte sie und hörte selbst die Erschöpfung in ihrer Stimme. Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Als wir dies alles geplant haben, haben Sie mir nie gesagt ... was glaubt Ihre Diözese oder Ihr Bischof oder wer immer Ihr Boß sein mag ... was glauben die, wo Sie stecken?«
    O'Rourkes Grinsen verschwand nicht. »Im Urlaub«, sagte er. »Seit sechs Jahren überfällig. Von Seiner Exzellenz über die Verwaltung der WHO, mit der ich arbeite, bis zu meiner Haushälterin in Evanston sind alle der Meinung, es sei eine prima Idee, daß ich endlich einmal Urlaub mache.«
    Kate lehnte sich müde an den Türrahmen. »Und welche Auswirkungen hätte es auf Ihren Ruf, wenn sie herausfänden, daß Sie mit einer Frau durch Europa reisen?«
    O'Rourke warf die Zimmerschlüssel in die Luft und fing sie klirrend wieder auf. Er reiste mit einer einzigen ledernen Reisetasche, deren Gurt er jetzt gerade mit der Selbstverständlichkeit des weitgereisten Weltenbummlers über die Schulter schlang. »Es würde meinen Ruf immens verbessern, wenn einige meiner alten Seminarskommilitonen oder Professoren mich jetzt sehen könnten«, sagte er. »Die waren stets der Meinung, ich nähme alles zu ernst. Jetzt legen Sie sich schlafen, und wenn Sie aufwachen, treffen wir uns zu einem späten Mittag- oder frühen Abendessen, je nachdem. Einverstanden, Neuman?«
    »Einverstanden, O'Rourke.« Sie sah, wie er pfeifend den Flur entlangging und bemerkte sein leichtes Hinken, bevor sie die Tür zumachte und abschloß.
     
    Sie sollten sich am Sonntagabend in Budapest mit den Zigeunern treffen, und O'Rourke hatte für sie eine Passage auf dem Tragflügelboot Wien-Bukarest gebucht, das am Sonntag, dem 6. Oktober, morgens aufbrach.
    »Es ist der letzte Tag, an dem das Tragflügelboot fährt«, sagte er, als sie am nächsten Tag im Rathauspark spazierengingen. »Der Winter steht vor der Tür.«
    Kate nickte, glaubte es aber eigentlich nicht. Der Tag war warm, mindestens um die achtzehn Grad, und das leuchtende Herbstlaub in den Gärten und entlang der Ringstraße trug seinen Teil zu dem klaren, vollkommenen Herbsttag bei. Kates Stimmung verlangte nach Regen und Kälte.
    »Wir haben den ganzen Tag Zeit«, sagte der Priester. »Irgendwelche Vorschläge, wie wir ihn verbringen sollen? Sie sollten sich selbstverständlich ausruhen.«
    »Nein«, sagte Kate mit Nachdruck. Bei der Vorstellung, in einem Hotelbett zu liegen, wollte sie vor Ungeduld schreien.
    »Nun, das Kunsthistorische Museum besitzt eine vorzügliche Sammlung«, sagte er. »Und es ist ein gutes Jahr für Mozart.«
    »Haben Sie mir nicht gesagt, daß es im Kunsthistorischen Museum ein Porträt des echten Dracula gibt?« fragte Kate. Sie hatte alles, was sie in die Finger bekam, über einstige Herrscher Transsilvaniens gelesen, seit sie vor drei Monaten erstmals Joshuas Krankheit diagnostiziert hatte.
    »Ja ... ich glaube schon«, sagte der Priester. »Kommen Sie, wir nehmen die Linie 1.«
     
    Auf einem kleinen Schild unter dem Porträt stand: VLAD TSEPESCH: WOIWODE DER WALACHEI, GEST. 1477, DEUTSCH, 16. JH. Auf einem kleineren Schild unter dem Gemälde konnte man in Deutsch und Englisch lesen: Leihgabe des Ambras-Museums, Innsbruck. Kate betrachtete das Gesicht des lebensgroßen Bildes.
    Als Ärztin kamen ihr die großen, leicht vorquellenden Augen möglicherweise als hyperthyroidal vor; der prognathische Kiefer und die vorstehende Unterlippe waren manchmal ein Markenzeichen für Schwachsinn oder gewisse Abarten von Fehlfunktionen von Hypophyse oder Knochen. Platyspondylie? fragte sie sich. Die charakteristische Abweichung, die man normalerweise bei Thymusdysplasie und anderen schweren kombinierten Immunschwächesymptomen fand?
    »Grausame Augen, finden Sie nicht?« sagte O'Rourke. Der Priester hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wippte leicht auf den Fersen.
    Die Frage überraschte Kate fast. »Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ob sie grausam sind«, sagte sie. Sie

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