Kinder der Retorte
sich geordnet haben, sehe ich mich in meiner ganzen Größe vor mir. Eindrucksvoll. Ein richtiger Alphastutzer, ein roter Teufel, der sich zurecht gemacht hat, auszugehen. Lilith hat recht. Kein Gamma würde es wagen, mich zu belästigen oder mir auch nur In die Augen zu schauen.
Gehen wir, Alpha Leaper! Machen wir einen Bummel durch die Gammastadt!
Wir gehen hinaus. Wir gehen bis zum Rand der City, schauen auf windgepeitschtes Wasser. Schaumkronen selbst im Hafen. Früher Nachmittag, doch bereits hereinbrechende Nacht. Eine schmutzige, graue Tageszeit, tiefhängende Wolken. Der trübe Schimmer von Straßenlaternen. Andere Lichter schimmern schmutzig an den Gebäuden oder schweben in der Luft: rote, grüne, blaue, orangefarbene, aufleuchtend und verlöschend, Beachtung heischend, ein Pfeil hier, das Zeichen einer Trompete dort. Erschütterungen. Dämpfe. Gerüche. Geräusche. Die Nähe vieler Leute. Ein Kreischen im grauen Zwielicht. Fernes Gelächter, gedämpft. Gesprächsfetzen dringen durch den Nebel:
»Laß los, oder…«
»Zurück in die Retorte! Zurück in die Retorte!«
»Traumpillen, wer nimmt Traumpillen?«
»Stacker können es dir nicht sagen.«
»Traumpillen!«
»Huuh! Huuh!«
Stockholm ist fast ganz von Androiden bevölkert. Warum drängen sie sich hier zusammen wie in den neun anderen Städten? Gettos? Sie haben es nicht nötig. In der Transmatwelt heißt es: wohne, wo du willst, arbeite, wo es dir gefällt.
Aber wir lieben es, unter uns zu sein, sagt sie.
So schließen sie sich in Klassen ab in ihren Gettos. Die Alphas am Rand des Viertels in den schönen alten Häusern, die Betas im zerfallenden Zentrum. Und dann die Gammas. Die Gammas! Willkommen in der Gammastadt.
Nasse, schlüpfrige, schlammige Kopfsteinpflasterstraßen. Mittelalter? Verwitterte graue alte Häuser, schmale Gassen. Im Rinnstein fließt träge kaltes schmutziges Wasser. Fenster aus Glas und dennoch ist nicht alles archaisch hier: eine Mischung von Stilen, alle Arten von Architektur, alle Stufen des Fortschritts, zweiundzwanzigstes, zwanzigstes, neunzehntes, sechzehntes, vierzehntes Jahrhundert durcheinander gewürfelt. In der Luft hängen die Netze von wettersicheren Hochstraßen, verrostete Rollwege in einigen wenigen der winkligen Straßen. Das Summen von Klimaanlagen, die defekt sind und grünliche Nebel in die Winterluft blasen. Dickwandige Barockkeller. Lilith und ich gehen durch die in verrücktem Zickzackmuster verlaufenden Gassen. Ein Dämon muß diese Stadt entworfen haben. Ein Werk der Perversion.
Gestalten huschen vorbei, Gesichter.
Gammas! Gammas überall. Sie starren dich an. Schauen weg, starren dich wieder an. Kleine trübe Augen, vogelähnlich, erschreckt, flackernd. Sie haben Angst vor uns. Die soziale Distanz? Sie wahren die soziale Distanz. Sie schleichen, sie starren, doch wenn wir näher kommen, versuchen sie, unsichtbar zu sein. Den Kopf gesenkt. Die Augen abgewandt. Alphas, Alphas, Alphas. Nehmt euch in acht, ihr Gammas.
Wir blickten von hoch oben auf sie herab. Ich habe nie gewußt, wie stämmig Gammas sind, wie klein, wie breit. Und wie stark. Diese Schultern. Diese knotigen Muskeln. Jeder von Ihnen könnte mich in Stücke reißen. Auch die Frauen sehen stark aus, obwohl sie anmutiger gebaut sind. Mit einem Gammamädchen ins Bett gehen? Sind sie feuriger als Lilith… Ist das möglich? Sie prügeln sich, sie springen wild umher, brüllen sich an, keine Hemmungen! Und der Geruch von Knoblauch. Denke nicht mehr daran. Roh sind sie. Roh. Es wäre wie Quenelle mit meinem Vater! Vergiß sie! Es ist genug Leidenschaft in Lilith und sie ist rein. Es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken. Die Gammas halten sich fern von uns. Zwei elegante Alphas auf dem Bummel. Wir haben lange Beine. Wir haben Stil. Wir besitzen Anmut. Sie fürchten uns.
Ich bin Alpha Leviticus Leaper.
Der Wind ist rauh hier. Er kommt direkt vom Wasser, scharf wie eine Messerklinge. Er wirbelt Staub und Abfälle auf in den Straßen. Staub! Abfälle! Wann habe ich je so schmutzige Straßen gesehen? Kommen die Reinigungsroboter nie hierher? Warum halten die Gammas nicht selbst ihre Straßen sauber? Sie legen keinen Wert auf solche Dinge, sagt Lilith. Es ist eine Sache der Kultur. Sie sind stolz darauf, keinen Stolz zu haben. Es ist ein Ausdruck ihres Status. Boden der Androidenwelt, Boden des Bodens der menschlichen Welt, und sie wissen es, und sie lieben ihn, und der Schmutz ist für sie ein Statussymbol. Warum nicht? Sie sagen, wenn
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