Kinder der Stürme
bleibt der Krieg hier in der Bucht.“ Er seufzte wieder. „Aber es ist nur eine Frage der Zeit“, sagte er mit schwacher Stimme, „und es wird viele Tote geben, bis alles vorüber ist. Wahrscheinlich werden sie mich rufen, um die Verwundeten zu versorgen. Der nackte Hohn – in Kriegszeiten muß ein Heiler die Symptome behandeln, ohne daß man ihm erlaubt, über die eigentlichen Ursachen des Krieges zu reden, es sei denn, er ist bereit, sich als Verräter einsperren zu lassen.“
„Ich nehme an, ich sollte erleichtert sein, nichts damit zu tun zu haben“, sagte Maris. Aber ihre Stimme klang widerstrebend. Sie dachte anders über den Krieg als Evan; Flieger standen über solchen Konflikten, genauso wie sie über dem trügerischen Meer schwebten. Sie waren neutral, und ihnen durfte kein Schaden zugefügt werden. Objektiv war der Krieg eine bedauerliche Sache, aber bisher hatte weder Maris, noch jemand, den sie liebte, direkt etwas damit zu tun gehabt, deshalb saß ihre Angst davor nicht sehr tief. „Als ich jünger war, konnte ich eine Botschaft auswendig lernen, ohne sie richtig gehört zu haben. Anscheinend habe ich dieses Talent verloren. Manche Worte, die ich überbringen mußte, haben mir die Freude am Fliegen verdorben.“
„Das kenne ich“, stimmte S’Rella zu. „Ich habe die Ergebnisse einiger meiner Botschaften gesehen, und manchmal fühlte ich mich schuldig.“
„Das brauchst du nicht“, sagte Maris. „Du bist ein Flieger. Du trägst keine Verantwortung.“
„Val sieht das anders“, sagte S’Rella. „Ich habe einmal mit ihm darüber diskutiert. Er ist der Meinung, wir seien verantwortlich.“
„Das ist verständlich“, sagte Maris.
S’Rella blickte sie verständnislos an. „Warum?“
„Hat er dir nichts davon erzählt?“ sagte Maris. „Sein Vater wurde gehängt. Ein Flieger überbrachte den Hinrichtungsbefehl von Lomarron nach Süd Arren. Arak war derjenige. Erinnerst du dich noch an ihn?“
„Nur zu gut“, sagte S’Rella. „Val verdächtigt ihn, hinter dem Überfall auf ihn zu stecken. Ich erinnere mich noch, wie wütend er war, daß er die Angreifer nicht ausfindig machen konnte.“ Sie lächelte bitter. „Ich kann mich auch noch an das Fest erinnern, das er auf Seezahn gegeben hat, als Arak starb. Er spendierte schwarzen Kuchen und vieles mehr.“
Evan blickte die beiden Frauen nachdenklich an. „Warum überbringst du die Botschaften, wenn du dich schuldig fühlst?“ fragte er S’Rella.
„Warum? Ich bin eine Fliegerin“, sagte S’Rella. „Das ist mein Beruf. Die Verantwortung hängt an den Flügeln.“
„Wahrscheinlich“, sagte Evan. Er stand auf und stellte die leeren Teller zusammen. „Diese Haltung könnte ich nicht einnehmen“, gestand er freimütig. „Aber ich bin ein Landgebundener und kein Flieger. Ich wurde nicht für die Flügel geboren.“
„Wir auch nicht“, begann Maris, aber Evan verließ den Raum. Sie spürte einen Anflug von Verdruß, aber S’Rella führte das Gespräch fort, und Maris vergaß über der Unterhaltung, worüber sie sich geärgert hatte.
Endlich war es soweit. Die Schienen konnten entfernt werden. Ihre Beine wurden befreit, und Evan versprach ihr, daß es mit dem Arm auch nicht mehr lange dauern würde.
Beim Anblick ihrer Beine stieß Maris einen Schrei aus. Sie waren so dünn und blaß und sahen seltsam aus. Evan massierte sie vorsichtig und wusch sie mit einer warmen Kräuterlotion ab. Dann knetete er die Muskeln, die so lange untätig gewesen waren, Maris seufzte vor Vergnügen und entspannte sich.
Als Evan endlich fertig war, stand er auf, stellte die Schüssel beiseite und legte das Handtuch weg. Maris platzte vor Ungeduld. „Kann ich laufen?“ fragte sie.
Er sah sie grinsend an. „Kannst du es?“
Ihr Herz sprang vor Freude und Erwartung. Sie setzte sich auf und ließ die Beine über die Bettkante hängen. S’Rella bot ihr ihre Hilfe an, aber Maris schüttelte den Kopf und deutete ihrer Freundin an, daß sie weggehen sollte.
Dann stand sie ohne fremde Hilfe auf ihren beiden Beinen. Aber etwas war nicht in Ordnung. Ihr wurde schwindelig. Sie sagte zwar nichts, aber ihr Gesicht sprach Bände.
Evan und S’Rella kamen näher. „Was ist los?“ fragte Evan.
„Ich, ich bin wohl zu schnell aufgestanden.“ Sie schwitzte und hatte Angst, sich zu bewegen, Angst, umzufallen oder ohnmächtig zu werden oder sich übergeben zu müssen.
„Halb so schlimm“, sagte Evan. „Nimm dir Zeit.“ Seine Stimme klang
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